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Über das Haben

Über das Haben

Titel: Über das Haben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Weinrich
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Fassung des Wörterbuchs und der Erweiterung auf acht Bände (1993–1995) ist dann dieser Konzeptfehler korrigiert worden, und man kann nunmehr wieder im Wörterbuch nachschlagen, was bei Lessing ein «Stockjude» ist, nämlich ein orthodoxer Jude und nicht etwa ein Jude mit einem Stock.
    Der zweite Einwand, der mit dem ersten eng zusammenhängt, betrifft wiederum die Konstruktion des HABEN -Artikels in diesem Wörterbuch.[ 3 ] Auffällig ist nämlich in allen Fassungen des großen Duden-Wörterbuchs die gleiche Umkehrung der alt-lexikographischen Prioritäten, wie sie schon beim Ost-Berliner Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, dort aber unter nostalgischen Vorzeichen, festzustellen war. Die Bedeutungsbeschreibung beginnt beim Duden wie folgt:
    I.1.a (
als Eigentum oder Ähnliches
)
besitzen,
    sein Eigen nennen:
ein Haus, ein Auto,
    viele Bücher HABEN , einen großen Besitz,
    viel Geld, Eigentum, Vermögen HABEN ;
    Nach acht Tagen HATTE er kein Geld mehr
    und fuhr nach Hause (Böll): Immer wieder
    deutet er an, er HABE einiges an Pfandbriefen
    (Chotjewitz); ich möchte, will das HABEN ;
    Leute, die HATTEN , was er nicht hoffen
    konnte zu HABEN (Johnson); sie HAT nichts
    (umgangssprachlich;
HAT keinerlei Besitz
,
    ist arm) […]
    Auch der Duden hat somit beim HABEN , nun aber ohne erkennbare Vorbehalte, den Besitz und das Eigentum, also die beweglichen und unbeweglichen Sachen, an den Anfang der Bedeutungsbeschreibung gesetzt und diesen damit eine Prominenz gewährt, die sie gegenüber den Personen nicht verdienen. Eine solche Verdinglichung ist nicht leicht zu nehmen. Zeigt sie vielleicht sogar an, dass ein deutsches Bildungsbürgertum sich nur noch als Besitzbürgertum verstehen will? Es sieht jedenfalls so aus, als könne man aus Wörterbüchern nicht nur Wörter lernen.

– 11 –

ANDERE SPRACHEN HABEN ANDERS – MIT EMILE BENVENISTE
    1938. Gerade bin ich auf dem Gymnasium angenommen worden. Doch heißt es in jenem Jahr nicht mehr so, sondern Oberschule. Auch die bunten Gymnasiastenmützen, grün für die Sexta, sind gerade abgeschafft worden.
    Die erste Fremdsprache ist Englisch. Unser Englischlehrer wird sehr bewundert. Er ist der einzige Lehrer der Schule, der ein Auto besitzt. Es parkt während der Schulzeit auf dem Schulhof. Wir nennen unseren Englischlehrer Isi. Die englische Sprache ist tatsächlich
easy
, so kommt es mir wenigstens vor. Wie leicht ist doch zu lernen: «Ich HABE ein Buch» – das heißt auf Englisch beinahe genau so:
I HAVE a book
! Doch müssen wir auch die «Stammformen» lernen, die aber nur ein bisschen unregelmäßig sind:
to have – had – had
. Warum muss man nur immer die Präposition
to
hinzusetzen, wenn man doch nur einfach etwas HABEN will? Das ist nun mal so.
    In unserem Mietshaus wohnt in jenem letzten Vorkriegsjahr ein etwa gleichaltriger Amerikaner. Von Zeit zu Zeit erprobe ich bei ihm mein Englisch. Seltsam ist, dass er statt
I have
meistens
I’ve
sagt. Den einen Konsonanten [v], der HABE oder HABEN bedeuten soll, hört man kaum. Doch nicht selten sagt er auch:
I’ve got
oder auch nur:
I got
. In Isi’s Englisch hört man solche Formen nie. Ist das nun «Slang»?[ 1 ] Ich weiß wohl,
to get – got – got
, das heißt eigentlich «kriegen». Das ist auch so ein Wort, das dürfen wir höchstens auf dem Schulhof gebrauchen, keinesfalls im Klassenraum schreiben. Müssen wir dabei an «Krieg» denken?
    1939. Nun ist der Krieg da. Im Schulgebäude hängt ein großes Transparent: « ES IST KRIEG MIT ENGLAND ». Wieso nur mit England? Englisch lernen müssen wir jedenfalls weiterhin. Um diese Zeit zieht die Familie meines Amerikaners aus. Sie kehrt in die VereinigtenStaaten zurück. In die freie Wohnung zieht ein Gauredner der Partei ein. Ich solle fleißig Englisch lernen, ermahnt er mich: «die Sprache des Feindes».
    *
    1940. Von der dritten Klasse an, also ab Quarta, HABEN wir als zweite Fremdsprache Latein. Nun wird die Grammatik ein ganzes Stück schwieriger, auch die Lektion mit HABEN . Zunächst sieht es gar nicht nach Schwierigkeiten aus, denn wir lernen für HABEN :
habere, habeo, habui, habitum.
Also: «Der römische Bauer HAT viele Äcker» heißt auf lateinisch:
Rusticus Romanus HABET multos agros
.
    Dann aber, sehr ärgerlich für unser Verständnis: «Ich HABE einen Freund», dafür müssen wir lateinisch sagen:
Mihi amicus EST ,
das heißt wörtlich: «Mir IST ein Freund». Und dazu gibt es auch gleich den passenden Begriff aus der

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