Über das Haben
Grammatik:
dativus possessivus.
Der Dativ
mihi
(«mir»), so lerne ich, steht als Kasus der Zuwendung. Hier ist nun nicht nur etwas zu lernen, sondern umzulernen. Der Freund ist einer, der mir zugewandt ist. So gehört er doch zu mir. Das lässt sich hören. Und so weiß ich auch heute noch, dass man im Lateinischen für HABEN (etwas vereinfacht ausgedrückt) bei Sachen
habet,
bei Personen jedoch meistens
mihi est
sagt. Die Römer, so scheint es, HABEN eben ein bisschen anders als die Germanen.
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Was sodann die romanischen Sprachen betrifft, die ja aus dem (Vulgär-)Latein entstanden sind, so hielten sie für mich, als ich sie beim Studium der Romanistik erlernen wollte, auch noch einige Überraschungen bereit. In den beiden ibero-romanischen Sprachen Spanisch und Portugiesisch werden nämlich die Paradigmen von SEIN und HABEN , außer von lat.
esse
und
habere
, auch noch von Ableitungen aus den lateinischen Ursprungsverben
stare
(«stehen») und
tenere
(«halten») bedient. Im Spanischen ist demnach zu unterscheiden zwischen den Verben
ser
und
estar, haber
und
tener
, zum Beispiel: «
Él ES viajero
» [er IST Reisender]/«
ESTÁ de viaje
» [er IST auf Reisen]. Auf dieseWeise wird im Spanischen zwischen einem substantiellen und einem akzidentellen SEIN unterschieden. Gleichfalls im Spanischen wird zwischen dem Verb («Vollverb») und dem Hilfsverb HABEN unterschieden:
«Ella TIENE un coche»
[sie HAT ein Auto]/
« HA hecho su permiso de conducir»
[sie HAT ihren Führerschein gemacht]. Ähnlich in seinen Formen, jedoch teilweise unähnlich in der Verteilung auf das Paradigma verhält es sich mit dem HABEN im Portugiesischen.
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Ein paar Jahrzehnte später. Nun bin ich selber von Beruf Linguist geworden und habe zwei Grammatiken geschrieben, zuerst eine «Textgrammatik der französischen Sprache» (1982), dann eine «Textgrammatik der deutschen Sprache» (1993). In beiden Grammatiken steht auch zum HABEN manches zu lesen, was in diesem Buch nicht wiederholt werden soll. Doch ist andererseits auch hier einiges zu sagen, was nicht unbedingt in jene Grammatiken gehörte. Das trifft insbesondere auf diejenigen fremden Sprachen zu, die es auf interessante Weise mit dem HABEN anders, ja oft ganz anders halten als solche europäischen Sprachen wie Deutsch und Französisch.
Diese Einsichten sind vor allem dem großen französischen Sprachforscher Emile Benveniste (1902–1976) zu verdanken, der in Paris am Collège de France gelehrt hat. Auf das HABEN -Problem ist Benveniste hauptsächlich durch Trendelenburgs philosophische Kritik an den aristotelischen Kategorien aufmerksam geworden (vgl. Kap. 1). Mit ihm hat er die kritische Ansicht geteilt, dass die aristotelischen Kategorien, unter ihnen namentlich SEIN und HABEN , aber ausdrücklich auch die beiden letzten Kategorien, TUN und LEIDEN , alias Aktiv und Passiv, tief in der (alt-)griechischen Sprache verwurzelt sind. In der Formulierung von Benveniste: «Die Denkkategorien sind zuerst Sprachkategorien» [
Les catégories de pensée sont d’abord des catégories de langue
][ 2 ].
Als Indogermanist, der aufs feinste die Methoden der historischen und vergleichenden Sprachwissenschaft beherrschte, konnte Benveniste dieses Problem, mit besonderer Berücksichtigung von SEIN und HABEN , vor dem Hintergrund aller indogermanischen Sprachen erörtern.Schließlich hat er auch noch eine Reihe von nicht-indogermanischen Sprachen zum Vergleich herangezogen. Das Ergebnis seiner zugleich theoretisch und empirisch orientierten Forschungen bestätigt zunächst den «Verdacht» von Trendelenburg und besagt: Wäre Aristoteles mit einer anderen Sprache aufgewachsen als mit dem (indogermanischen!) Griechischen seines Zeitalters, so hätte er vermutlich den Katalog seiner Kategorien anders gefasst. Doch will der Linguist Benveniste aus dieser Einsicht keineswegs eine Missachtung der griechisch geprägten aristotelischen Denkkategorien ableiten; denn die Menschen können natürlich auch mit anders geprägten Kategorien richtig denken. Doch denken sie dann vielleicht ein bisschen anders. Das herauszufinden und zu lehren, hat er als eine bleibende Aufgabe für die historische und vergleichende Sprachwissenschaft angesehen.
Was nun das HABEN betrifft, so können die linguistischen Forschungsergebnisse von Emile Benveniste in den folgenden drei Lehrsätzen knapp zusammengefasst werden:
Die Sprachen HABEN nicht alle gleich. Andere Sprachen HABEN anders.
Die meisten Sprachen der Welt
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