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Über das Haben

Über das Haben

Titel: Über das Haben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Weinrich
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Sprache» ein gutes Jahrzehnt später erschienen (1808). In beiden Wörterbüchern findet sich jeweils ein längerer Artikel über das Verb HABEN . Und in beiden haben die Wörterbuchmacher Wert darauf gelegt, die Beschreibung der Wortbedeutung mit dem körperlich-sinnlichen Bedeutungsbereich beginnen zu lassen. So liest man bei Adelung als «erste und eigentliche» Bedeutung des Verbs HABEN : «In der Hand halten, mit der Hand und in weiterer Bedeutung mit einem Teile seines Leibes berühren und sich dessen bewusst sein». Sein Leitbeispiel ist: « HABEN Sie das Buch? – Ja, jetzt HABE ich es». Und auch Campe beginnt ähnlich: «In der Hand, mit der Hand halten, und in weiterer Bedeutung an seinem Körper oder auch nur bei sich tragen». Dazu seine ersten Beispiele: « HAST du den Korb?/Ich HABE das Geld schon bereit./Ein Kind auf dem Arme HABEN ».
    In der Nachfolge dieser beiden für die klassische deutsche Literatur charakteristischen Wörterbücher verändern die Wörterbuchmacher seit der Mitte des 19. Jahrhundert, direkt oder indirekt beeinflusst durch romantisches Gedankengut, von Grund auf ihre lexikographischen Absichten. Sie stellen ihre normativen Zwecke zurück und denken bewusst historisch. Es sind in erster Linie die Brüder Grimm, Jacob und Wilhelm, die im Jahre 1854 gemeinsam den ersten Band ihres «Deutschen Wörterbuches» vorgelegt haben. Es war den beiden Brüdern nicht vergönnt, bei weitem nicht, dieses monumentale Wörterbuch zu vollenden. Erst mehr als hundert Jahre später ist das Werk im Jahre 1961 im Umfang von 32 Bänden zum Abschluss gebracht worden. Inzwischen liegt es sogar in einer ungekürzten Taschenbuchausgabe vor (1984).
    Der ausführliche Wörterbuchartikel zu dem Verb HABEN , der 32 großformatige Spalten umfasst, ist erst in den Jahren 1867 bis 1877 gedruckt worden. Ihr Verfasser ist Moritz Heyne, der sich mit Erfolg bemüht hat, dieses wichtige Wort der deutschen Sprache ganz imsprachhistorischen Geiste der Brüder Grimm zu beschreiben. Und so geht auch dieser Artikel des Grimm’schen Wörterbuches, ebenso wie die entsprechenden Artikel bei Adelung und Campe, von der «sinnlichen grundbedeutung» des Wortes im Sinne von «halten, fassen, umfassen» aus, mit starker Betonung aller Aspekte, die Körperlichkeit anzeigen. Aus heutiger Sicht ist besonders bemerkenswert, dass erst im Abschnitt II 3, nachdem schon neun großformatige Spalten des Wörterbuchartikels voraufgegangen sind, die Bedeutung dieses Verbs im Sinne von «zu eigen HABEN , im besitze HABEN » beschrieben wird. Die Beispiele dafür lauten: «geld/ein grosses haus in der Residenz/ein hübsches vermögen HABEN ».
    *
    Im 20. Jahrhundert geraten die repräsentativen Wörterbücher der deutschen Sprache mehr, als ihnen bekömmlich ist, unter den Einfluss politischer und wirtschaftlicher Kräfte. Das zeigt sich, wie unter einem Vergrößerungsglas, an der Lexikographie der Wortfamilie HABEN . Wir überschlagen aber die erste Hälfte dieses unseligen Jahrhunderts und setzen mit unseren Beobachtungen erst in den Jahren der deutschen Teilung ein. Da entsteht in der Deutschen Demokratischen Republik ( DDR ) das «Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache» (1964–1977). Dieses Wörterbuch, das mit seinen sechs Bänden von einem «Autorenkollektiv» unter der Leitung von Ruth Klappenbach und Wolfgang Steinitz erarbeitet worden ist, hat seinen Hauptwert darin, dass es zu einem erheblichen Teil auf einem eigenen Korpus von schriftlichen und mündlichen Texten der deutschen Sprache beruht. Doch können wir es heute zugleich lesen als Zeugnis eines gelebten Konflikts zwischen den hohen Ansprüchen einer wissenschaftlich soliden Lexikographie und den ideologischen Pressionen eines Regimes, denen sich die Berliner Wörterbuchmacher nicht vollständig entziehen konnten oder wollten.
    Davon gibt schon die Auswahl der als Gewährsleute für den Sprachgebrauch zitierten Autoren ein anschauliches Bild. Bei dem Verb HABEN ist deutlich ein streng symmetrisches Schema der über den ganzen vierspaltigen Artikel verteilten Zitate erkennbar:

    Man sieht, wie peinlich genau hier das Gleichgewicht zwischen der DDR und der « BRD » (so musste es damals für DDR -Autoren heißen) beachtet wird, mit der (unverfänglichen) Klassik und der (neutralen) Schweiz als zwei nahezu äquivalenten Pufferzonen.
    Bei den nicht namentlich belegten Beispielsätzen lesen wir sodann, dass die Kinder im Geschichtsunterricht der DDR gerade die

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