Über das Sterben
man sich die Entwicklung der Palliativmedizin in Deutschland seit der Jahrhundertwende etwas genauer anschaut.
Anästhesie oder Onkologie?
In ganz Deutschland (und übrigens auch in anderen europäischen Ländern wie Italien oder Österreich) tobt seit Jahren ein Machtkampf um die Beherrschung des Fachs Palliativmedizin, der von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt abläuft, aber große Gefahren für die Zukunft dieses Fachgebiets und damit für die Versorgung Schwerstkranker und Sterbender insgesamt birgt. Die beiden «Streithähne», welche die Kontrolle über die Palliativmedizin für sich reklamieren, sindmächtige Fächer: die Anästhesie und die Onkologie. Erstere begründet ihren Anspruch mit dem Hinweis auf die zentrale Rolle der Schmerztherapie in der Palliativmedizin, Letztere auf das Überwiegen von Krebspatienten in Palliativeinrichtungen.
Bei Lichte besehen, halten beide Ansprüche einer Überprüfung durch die Realität nicht stand: Zwar sind tatsächlich – aus vorwiegend historischen Gründen – über 90 Prozent der Patienten in deutschen Palliativstationen und Hospizen Krebspatienten, aber nur ein Viertel der Bevölkerung stirbt an Krebs. Die Palliativversorgung von Patienten mit unheilbaren Herz-, Lungen-, Leber- oder Nierenkrankheiten, um nur einige Beispiele zu nennen, liegt weltweit noch im Argen. Ebenso verhält es sich mit der Betreuung von Schwerstkranken mit neurologischen Erkrankungen und hochbetagten Demenzpatienten, die in Zukunft die größte Gruppe der Sterbenden darstellen werden. Die Palliativmedizin und die Hospizarbeit auch auf diese Patientengruppen auszudehnen, ist die wichtigste Aufgabe der kommenden Jahre. Sie würde aber naturgemäß fast unmöglich gemacht, wenn Palliativstationen nur innerhalb onkologischer Einrichtungen entstehen dürften.
Der Anspruch der Anästhesie wiederum beruht auf einer vermeintlichen Gleichsetzung von Palliativmedizin und Schmerztherapie. In der Tat wird in der Öffentlichkeit und in den Medien der Begriff «Palliativmedizin» oft vermieden und umschrieben mit «lindernder Medizin» oder gleich mit «Schmerztherapie für Sterbende». Wie wir aber in Kapitel 4 gesehen haben, ist Palliativmedizin weit mehr als nur Schmerztherapie. Die professionelle Arbeit auf einer Palliativstation teilt sich ungefähr zu gleichen Anteilen in die medizinisch-ärztlicheBetreuung und die psychosoziale/spirituelle Begleitung auf. Innerhalb der rein medizinischen Symptomkontrolle macht die Schmerztherapie etwa ein Drittel aus. Die übrigen zwei Drittel betreffen die Behandlung internistischer und neuropsychiatrischer Symptome (siehe Kapitel 4b und Abbildung 10.2). Mithin beträgt der Anteil der Schmerztherapie innerhalb der gesamten Palliativbetreuung etwa ein Sechstel. Nicht «eingerechnet» ist hierbei die zentrale Rolle der Pflege bei der psychosozialen Betreuung. Jeder Versuch einer Gleichsetzung von Palliativmedizin und Schmerztherapie ist deshalb als realitätsfern zu betrachten.
Abbildung 10.2: Die Arbeitsverteilung in der Palliativbetreuung.
Entwicklung der Palliativprofessuren in Deutschland
Um die Problematik der Entwicklung der Palliativmedizin an deutschen Universitätskrankenhäusern zu verstehen, muss man wissen, dass es dort grundsätzlich zwei Arten von Professurengibt: Lehrstühle, die in der Regel mit der Leitung einer selbständigen Klinik oder Abteilung einhergehen, und Professuren ohne Leitungsfunktion, die einem Lehrstuhlinhaber untergeordnet sind. Jedes neue Fachgebiet in der Medizingeschichte musste anfangs seine Eigenständigkeit gegen die alteingesessenen Fächer und die damit verbundenen Machtstrukturen durchsetzen (so durfte zum Beispiel vor etwa 100 Jahren der erste Lehrstuhlinhaber des neuen Faches Kinderheilkunde an der Berliner Charité nicht mit den anderen Ordinarien zu Mittag essen; der erste Lehrstuhlinhaber für Palliativmedizin in München durfte sich sein ärztliches Personal nicht selbst aussuchen, sondern bekam es von der Anästhesie und der Onkologie vorgesetzt).
Beim Fach Palliativmedizin äußerte sich diese Entwicklung folgendermaßen: Nach den ersten vier Lehrstühlen wurden in Deutschland bis 2011 nur noch abhängige Professuren für Palliativmedizin eingerichtet, die zumeist onkologischen oder anästhesiologischen Lehrstühlen untergeordnet wurden – und das, obwohl der Stifter der meisten dieser Professuren, nämlich die Deutsche Krebshilfe, ausdrücklich eine Eigenständigkeit der von ihr finanzierten
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