Über das Trinken
was man trinken konnte. Jedenfalls gesünder als Wasser. Es sind noch nicht viel mehr als zweihundert Jahre, daß in Europa der Genuß von Wasser als unbedenklich gilt. »Water weakens a person« wissen Engländer, wenn sie im Pub stehen, bis heute. Alkohol desinfizierte, Alkohol konservierte. Und, tja, Alkohol machte irgendwann betrunken. Man muß sich, so deuten es manche Historiker an, das Abendland bis ins 18. Jahrhundert als durchgängig und flächendeckend angeschikkert vorstellen. Vom Kind bis zum Greis und von den Bauern bis zu den Baronen. Von denen, die sich damit die körperliche Arbeit erträglich machten, bis zu denen, die wenig anderes zu tun hatten. Kopfklarheit als Lebensform, so ist zu lesen, das bringt erst ein Dasein zwischen Rechnungsbüchern mit sich, das kommt erst mit dem Bürgertum. Nüchternheit in dem Sinne, wie sie unsere Verkehrsbehörden heute verlangen, ist eine Erfindung der Moderne. Davor gab es ganz offenbar, wenn überhaupt, nur einen Unterschied: den zwischen angetrunken und sturzbetrunken.
Jahrhundertelang war das Trinken nämlich auch ein Zwang. Es konnte nicht abgelehnt werden, wenn es ans Zutrinken ging, wie das rituelle Leeren der Becher damals hieß. Geschäfte wurden so besiegelt, Lehnsverhältnisse, alles. Es gab im 16. Jahrhundert einmal einen
Nürnberger Patrizier, der sich von Papst Paul III. von diesem Trinkzwang befreien ließ. Daß man heute noch von ihm weiß, zeigt nur, daß er die berühmte Ausnahme darstellt, durch die jede Regel erst bestätigt wird.
Dauernd trinken zu müssen, wäre heute eine Horrorvorstellung. Gar nichts mehr trinken zu dürfen, allerdings auch. Es könnte sein, daß dieses Buch genau die Schwelle markiert, einen historischen Wendepunkt. Das klingt vielleicht ein bißchen pathetisch – ist aber vor allem dramatisch. Denn die Phase dazwischen, die Freiheit, jederzeit trinken zu dürfen: Die macht auch immer mehr den Eindruck, als würde es mit ihr zu Ende gehen. Als sei es an der Zeit, vorsichtshalber die vorletzten Runden zu ordern.
Wenn das Trinken aber ein Rückzugsgefecht ist, dann kann man auch gleich das ganze kulturgeschichtliche Gewicht der Sache in die Schlacht werfen. Denn jede Praxis hat eine Theorie. Jedes noch so frische Bier hat eine jahrtausendealte Geschichte. Und eine Bar ist nichts als die Fortsetzung der Bibliothek mit weniger trockenen Mitteln.
Prosit! Das ist Latein und heißt »Möge es nutzen«.
III. Die Trunkenen und die Nüchternen – ist der Konflikt lösbar?
Der Riß durch den Globus · Sogenannte Softdrinks · Die Alkoholabhängigkeit der Alkoholfreien · Wer zieht wen auf seine Seite? · Trinken als Wohlstandsindikator · Über die Verharmlosung des Trinkens · Und über die Verharmlosung der Abstinenz · Denn wer nur Wasser trinkt, hat etwas zu verbergen (Baudelaire)
Es geht heute ein Riß durch die Menschheit, den Globus und jede Getränkekarte. Und schon ein oberflächlicher Blick auf die beiden Lager verrät, auf welcher Seite man stehen wollen sollte: So viele Getränke gibt es auf der Welt. Und so wenige ohne Alkohol!
Schauen Sie einmal auf die Regale einer Bar, wo die Pracht und die Herrlichkeit und vor allem die Vielfalt der Alkoholika ausgebreitet sind wie die Federn eines Pfauenrads. Und dann stellen Sie sich das gleiche danach mit Softdrinks vor. Schauen Sie in einem Restaurant in die Karte – und dann suchen Sie die Seite mit den alkoholfreien Getränken. Wenn die überhaupt eine ganze Seite füllen. Eine Armada von Weiß-, Rot- und Roséweinen aus aller Herren Länder und Lagen, dazu Biere und Spirituosen gegen die immergleiche traurige Trias aus Selters, Cola und Apfelschorle. Wer in diesen kümmerlichen
Gefilden sein Getränk aussucht, muß sich über Mitleid und Ärger im Blick des Kellners nicht wundern. Und wer ein alkoholfreies Bier nach dem anderen ordert, muß nicht erwarten, daß der Barmann ihm am Ende des Abends das Du anbietet.
Schon die Bezeichnung deutet es ja an: alkoholfrei. Nichtalkoholisch. Antialkoholisch.
Ist damit nicht schon hinreichend deutlich, was der Normalfall ist und was die Ausnahme, der Sonderfall, die befremdliche Abart? Nicht einmal das Wort »trinken« ist ja neutral. Wer da von Kaffee, Tee oder Fruchtsaft spricht, muß das schon dazu sagen, sonst versteht ihn keiner.
Trinken ist automatisch Alkoholtrinken, außer man schließt es explizit aus. Die Tragik der Abstinenzler und Antialkoholiker besteht auch darin, daß sie das, was sie nicht
Weitere Kostenlose Bücher