Über das Trinken
wurde von der Psychologin offenbar als Zeichen von Charakterfestigkeit gewertet, und am Ende bekam er seinen Führerschein natürlich doch wieder.
Weil er die Nerven behalten hatte. Weil er ehrlich war zu ihr und sich.
Alles andere hat nämlich keinen Sinn. Ehrlichkeit ist das Wichtigste beim Trinken. Man muß dazu stehen. Und dafür muß man sich erst einmal damit auseinandersetzen. Insofern kann so eine MPU sogar im Interesse des eigenen Alkoholgenusses liegen. Es ist ein bißchen wie bei einer Krankschreibung, die der Workaholic nutzen kann, um ein paar Fotos ins Album zu kleben und das Tagebuch nachzutragen. Es gilt hier zu klären,
was man wann in welchen Mengen wo und mit wem und aus welchem Grund und mit welchem Ergebnis in seinem bisherigen Leben schon so getrunken hat – und dabei merkt man erst einmal, was für eine biographiebildende Rolle das Trinken spielt.
»Die eigene Trinkgeschichte aufarbeiten«: Das ist etwas, worauf die Verkehrspsychologen großen Wert legen. Sie sagen wirklich »Trinkgeschichte«. Das alles kann man aber nur wissen, wenn man einen Vorbereitungskurs besucht hat. Man kann eine MPU nicht schaffen ohne einen Vorbereitungskurs. Ausgeschlossen.
Ja, das ist unfaßbar teuer. Man muß öffentliche Verkehrsmittel benutzen, um überhaupt hinzukommen. Man muß pünktlich sein. Es empfiehlt sich auch, nüchtern zu erscheinen. Alles Härten für jemanden, der gerne fährt und/oder trinkt. Aber das alles ist Teil des Programms. Man muß sich das vorstellen wie einen institutionalisierten Kater. Es geht ja auch um das gleiche: Wunden lecken, Reue zeigen, geistig entgiften. Und wie ein guter Kater kann auch das eine gewinnbringende Erfahrung sein. Zum Beispiel trifft man bei Vorbereitungskursen auf eine MPU grundsätzlich interessante Leute.
Da war R., der kurz vor Weihnachten seinen Dienstwagen bei Glatteis in die Rabatten vorm Gebäude der Stiftung Warentest gesetzt hatte, wie um deren Mitarbeitern zu beweisen, daß der das mitmacht. Er hatte bei dem Versuch, da wieder rauszukommen, mit durchdrehenden
Reifen noch eine ganze Weile das Beet zerwühlt und war dann schimpfend zu Fuß nach Hause gelaufen. Als er am nächsten Vormittag wiedergekommen war, hatten schon die Warentester aufgebracht um sein Auto herumgestanden, und als er dann Anstalten machte, das mit dem Ausparken noch einmal zu probieren, da hatte die Polizei ihn pusten lassen. Und siehe: Da standen immer noch stattliche 1,6 Promille Restalkohol zu Buche.
Oder S., der Mann vom Außendienst, der nach ein paar Grappa noch absolut fahrtüchtig war und sich auch nichts zuschulden kommen lassen hatte. Im Gegenteil: Ihm war an der Ampel stehend ein LKW hintendraufgedonnert. Was aber macht unsere Polizei? Gibt IHM die Schuld. Als ob er im Rückwärtsgang dem LKW reingefahren wäre. »Absurd!« sagte S., der Außendienstler – und daß er die Polizisten daraufhin gefragt habe, wieviel Grappa die eigentlich getrunken hätten, was die Sache für ihn am Ende nicht besser gemacht hatte.
Jedes Schicksal eine Tragödie für sich. Aber das fing schon mit dem Kursleiter an.
Der Mann hieß W. und erklärte uns gleich zur Begrüßung, daß er grundsätzlich 140 fahre, wenn 120 erlaubt sind. Strafpunkte in Flensburg gebe es ja erst, wenn er mit 141 km/h geblitzt wird, und der Tanz am Rande solcher Grenzen – oh, damit kenne er sich aus. Bevor W. MPU-Trainer wurde, hatte er sein Geld als Day-Trader verdient. Dauernd mit zuckendem Finger an mindestens
zwei Computern gleichzeitig. Auch das wollte er schon mal vorausgeschickt haben. Rausch und Suchtgefahren: keine Fremdwörter für ihn. Dann freute er sich grimmig über die verstörten Gesichter seiner Klienten. Er wußte: Da sitzen lauter Leute, die der Meinung sind, hier gar nicht herzugehören.
Ich erinnere mich noch an den jungen E., der von sich sagte, ihn gehe das hier im Grund überhaupt nichts an. Alkohol sei nun wirklich nicht sein Problem. Er lebe nämlich abstinent, aus Überzeugung, und zwar immer schon.
Kursleiter W. schaute erstaunt in seine Akten. »Hier steht, Sie hatten 1,8 Promille, als man sie gefunden hat. Schlafend. Am Lenkrad. Mitten auf der Kreuzung.«
»Weil doch Silvester war!« schrie aufgebracht der junge E. Das sei es ja: Tanzen habe er gehen wollen, anstehen habe er müssen, Wasser sei ihm von falschen Freunden angeboten worden, um Wodka habe es sich wohl in Wahrheit gehandelt. Dann sei kein Taxi zu haben gewesen. Aber sein Auto habe da gestanden. Und bevor
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