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Ueber Den Deister

Ueber Den Deister

Titel: Ueber Den Deister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Teltscher
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Elbdeiche übereinander, rechnete er aus. So unverhofft, wie er oben angekommen war, war er auf der anderen Seite des Deisters wieder im Tal.
    Auf sanft geschwungenen Straßen fuhr Marder durch das Schaumburger Land, eine sympathische Landschaft aus Wiesen, Feldern, Bächen und Dörfern. Heute lag jedoch keine friedliche Stille über dieser milden Gegend. Zu heiß lastete die Luft des späten Vormittags über dem Land. Sie war für Menschen, Tiere und Pflanzen gleichermaßen schwer zu ertragen. Die Büsche am Straßenrand und auf den Feldern schienen sich zu ducken, als wollten sie den unbarmherzigen Sonnenstrahlen ausweichen. Die Bäche führten kaum Wasser, bis auf einige schlammige Pfützen waren sie leer. Die Menschen schienen sich wegen der Hitze in ihren Häusern zu verstecken. Die ganze Welt wartete auf erlösenden Regen und kühlere Temperaturen.
    Marder fuhr auf der Umgehungsstraße an Hameln vorbei. Die Sage um den Rattenfänger, der mit seinem Flötenspiel die Kinder der geizigen Bürger dieser Stadt angelockt und in die Fremde entführt hatte, war seit der Zeit im Kindergarten in sein Gedächtnis eingeprägt. Damals hatte er geglaubt, die Stadt Hameln existiere in Wirklichkeit nicht, sie sei lediglich ein Ort in einem Märchen, so wie das Wunderland, wohin es Alice verschlagen hatte. Heute war er nicht in der Stimmung nachzuschauen, ob die Altstadt tatsächlich so romantisch war, wie er von Freunden gehört hatte. Solange er Vera Matuschek nicht gefunden hatte, war er zu ungeduldig, um Sehenswürdigkeiten zu genießen. Sollte die Suche nach Vera in Holzminden zu einem schnellen und guten Ende führen, würde er auf seiner Rückreise Halt in Hameln machen.
    Die Straße führte durch ein weites und beschauliches Tal entlang der Weser. Die Höhenzüge, die es einsäumten, griffen nicht nach den Sternen, sie reckten sich bestenfalls nach tiefen Wolken, auch wenn sich heute keine am Himmel zeigte. Marder konnte verstehen, dass Menschen, die zwischen den Hügeln der Mittelgebirge aufgewachsen waren, sich in der scheinbar grenzenlosen Ebene zwischen Heide und Küste verloren fühlten. Kurz hinter Hameln führte eine Allee unmittelbar am Fluss entlang. Auf einer Seite wurde sie durch eine Mauer aus Natursteinen begrenzt, während sich von der Flussseite riesige Platanen über die Fahrbahn lehnten und einen Tunnel aus Schatten bildeten. Zwischen den Stämmen der Bäume konnte er das Wasser der Weser glitzern sehen. Es ist schön hier, dachte er.
    Irgendwo auf dieser Straße musste Christian Neuberger Vera Matuschek begegnet sein, als sie nach einem Besuch in Holzminden nach Hause fuhr. Was war es, das Vera an Volkert anzog? Eigentlich war Volkert nach Marders Einschätzung nicht der Typ von Mann, der Vera interessieren würde. Aber da konnte er sich natürlich irren. Selbstverständlich konnte er die Frage auch umgekehrt stellen: Was war es, das Volkert an Vera faszinierte? Marder erinnerte sich, dass er beide wenig liebenswert fand, als er sie kennenlernte. Vielleicht lag das aber auch an der Situation, in der sie sich damals befunden hatten. Vielleicht hatten sie sich inzwischen geändert und verhielten sich ganz anders, wenn sie zusammen waren. Konnte es sein, dass er es selbst war, der überheblich durchs Leben ging? Der seine Mitmenschen viel zu schnell beurteilte, sogar verurteilte? Der von Menschen erwartete, dass sie sich so verhielten, wie es seinen persönlichen Vorstellungen entsprach?
    Er war sich sicher, dass Vera und Volkert für ihn ebenso wenig Sympathie empfanden wie er für sie – und vielleicht waren sie damit im Recht. Wenn sie über ihn sprachen – was bestimmt selten vorkam –, fragten sie sich vielleicht, wie ein so unangenehmer Typ wie dieser Marder eine Frau gefunden hatte, die bereit war, mit ihm Tisch und Bett zu teilen.
    Sein erster Eindruck von Holzminden war enttäuschend. Er hatte eine Stadt erwartet, deren Häuser den Hintergrund einer attraktiven Uferpromenade bildeten. Diesen Gefallen tat ihm der Ort nicht. Das Ufer der Weser im Stadtgebiet war ein ehemaliges, jetzt stillgelegtes Industriegelände. Der Fluss wurde am Kai von zwei verrosteten Bahngleisen begleitet. Früher hatte hier zweifellos reger Handel geherrscht, und das Be- und Entladen von Schiffen war in hektischer Geschäftigkeit geschehen. Diese Szenerie war den modernen Transportmitteln auf Schiene und Straße zum Opfer gefallen. Die Bewohner der Stadt hatten das verlassene Ufer des Flusses bisher weder für ihr

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