Ueber Den Deister
zwei Stunden zu schaffen, deswegen war Vera stets nur für zwei oder drei Tage dorthin gefahren. Warum sie diese Reisen so geheim hielt, würde er Vera fragen müssen, wenn er sie fand.
Im Moment konnte er darüber nur spekulieren: Vielleicht befürchtete Vera, dass man es nicht als schicklich ansehen würde, dass sie sich so kurz nach dem Tod ihres Mannes mit einem anderen zusammentat. Vielleicht war es ihr auch peinlich gewesen, dass sie bei Christian Neuberger mit ihren eindeutigen Angeboten keinen Erfolg gehabt hatte, und sie wollte nicht in den Verdacht geraten, mit einer zweiten Wahl zufrieden zu sein? Ja, dachte Marder, das könnte der Grund sein, warum sie ihre Verbindung mit Volkert nicht der Öffentlichkeit preisgeben wollte.
Auch Volkert mochte seine Gründe haben, die Liebe zu Vera
– wenn es denn Liebe war – nicht in die Welt hinaus zu posaunen. Er wollte vermutlich nicht in den Ruf kommen, die Notlage einer frischen Witwe auszunutzen, die dazu noch die Frau eines früheren Kollegen war. Deshalb kam Volkert nie nach Barsinghausen, sondern Vera musste ihn in Holzminden besuchen, wo keiner sie kannte. Marder fragte sich, wie Volkert Vera seinen Bekannten vorstellte, wenn er sie überhaupt jemandem vorstellte.
Die Schlüsse, die er bisher gezogen hatte, beruhten auf Vermutungen, dessen war Marder sich bewusst. Sie schienen ihm logisch, dennoch konnte er nicht ausschließen, dass es die Hirngespinste eines Kriminalkommissars im Ruhestand waren, der den Bezug zu der Realität verloren hatte. Hatte er vielleicht irgendetwas völlig falsch interpretiert? Sich in wilde Spekulationen verliebt, nur weil er bisher in seinen Ermittlungen nicht weitergekommen war? Nein, dachte er noch einmal, ich bin tatsächlich der Wahrheit auf der Spur. Er war überzeugt, den Zugang zum Rätsel um Veras Abwesenheiten gefunden zu haben. Das alles erklärte allerdings noch nicht, warum sie seit fast zwei Wochen verschwunden war. Er musste die Antwort auf diese Frage in Holzminden suchen. Dort würde er Vera aufspüren, und wenn nicht, würde er dort zumindest den nächsten Schritt auf der Suche nach ihr machen.
Er beschloss, für den Rest dieses Tages im Schatten zu sitzen. Morgen früh werde ich nach Holzminden fahren, nahm er sich vor. Ich werde schauen, ob die Puzzleteile, die ich mir in der Theorie zurechtgelegt habe, in der Wirklichkeit zu sammenpassen. Ich werde erst einmal mit niemandem über meine Vermutungen sprechen, höchstens mit meiner Frau, falls sie mich heute Abend anruft. Besser noch … ich rufe sie an, sie kennt sich in den Leiden und Leidenschaften zwischen Männern und Frauen besser aus als ich, sie wird mir bestätigen, dass das Szenario, das ich konstruiert habe, kein Unsinn ist. Morgen Abend wird der Fall von Veras Verschwinden gelöst sein, und ich kann alle Welt mit einer einfachen Erklärung überraschen.
Kapitel 9
Wie Serpentinen in den Alpen führte die Straße steil und kurvig den Deister hinauf. Der Volkswagen begann zu stottern, Marder schaltete gerade noch rechtzeitig vom fünften in den dritten Gang, bevor der Motor die Arbeit verweigerte. Fahrer und Fahrzeug waren Passstraßen aus dem flachen Land um Stade nicht gewohnt.
Vor seiner Abfahrt aus Barsinghausen hatte Marder im Büro der Kriminalpolizei vorbeigeschaut. Er hatte sich angeboten, Volkerts Jacke, die der dort hinterlassen hatte, mitzunehmen, wenn er schon auf dem Weg zu ihm war. Sie hing nach wie vor im Schrank in Brenners Büro, nach dem Gespräch mit Marder hatte Brenner sie wieder ignoriert. Das Sakko schimmerte in ermattetem Grau und strahlte die Müdigkeit vieler Dienstjahre aus. An den Ellenbogen waren lederne Schon-ecken angenäht, von denen Marder bisher geglaubt hatte, es gäbe sie nur in satirischen Filmen, in denen man sich über die angebliche Beamtenmentalität lustig macht.
Vielleicht kann ich Volkert damit eine Freude bereiten, dachte er, als er die Jacke auf den Rücksitz seines Autos legte. Vielleicht hat er das wertvolle Stück vermisst und kann sich nicht erinnern, wo er es vergessen hat. Vielleicht hat er sich auch gewundert, warum ihm zwei Euro fehlen. Marder hatte das Geldstück entdeckt, als er die Taschen abgetastet hatte. Marder erreichte den höchsten Punkt der Strecke, bevor er sich an das Fahren durch die engen Kurven des Nienstedter Passes gewöhnt hatte. Am Scheitelpunkt der Straße zeigte ein Schild die Höhe mit zweihundertsiebenundsiebzig Meter
über Normalnull an. Das sind mehr als zwanzig
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