Ueber den Himmel hinaus - Roman
Sie kommen gut mit Ihrer Cousine aus?«
»Wir stehen uns sehr nahe.«
Entsprach das noch den Tatsachen? Sie telefonierten immer seltener. Abgesehen vom alljährlichen Treffen im Winter hatte sie nur wenig Kontakt mit Sofi, und wenn, dann mit einem unguten Gefühl. Sie nahm ihr das Finanzdebakel noch immer übel. Aber natürlich liebten sie einander wie früher. Sie waren schließlich miteinander verwandt.
»Das wäre ideal für Sie. Ein Werbevertrag, der garantiert, dass Sie in sämtlichen großen Hochglanzmagazinen zu sehen sind. Damit signalisieren Sie der Welt ›Ich bin wieder da, nehmt mich ruhig ernst‹. Am besten rufen Sie Ihre Cousine gleich an und sagen Ihr, dass Sie Interesse haben.«
»Ich … Vielleicht sollten lieber Sie anrufen, und dann warten wir ab, wie sie reagiert«, sagte Natalja unsicher. »Ich möchte mich nicht aufdrängen.«
»Das sollten Sie aber. Wann, wenn nicht jetzt?«, erwiderte Leida streng.
Natalja nickte. »Schicken Sie der Agentur meine Mappe, und ich rufe Sofi an und sage ihr Bescheid«, sagte sie mit wachsender Zuversicht.
Sie war wie geschaffen für diesen Auftrag. Natürlich würde Sofi sie unter Vertrag nehmen. Seltsam nur, dass sie sich nicht persönlich bei ihr gemeldet hatte …
Lena war in den vergangenen zwei Jahren nicht einmal krank gewesen, doch heute fühlte sie sich außerstande, das Bett zu verlassen und es mit zwölf kleinen Kindern aufzunehmen. Zweifellos hatte eines von ihnen sie angesteckt. Die Mütter stopften ihre Sprösslinge mit Medikamenten
voll, damit sie sie in der Krippe abliefern und zur Arbeit gehen konnten, und spätestens nach dem Frühstück machten die Bakterien und Viren dann die Runde.
Sie hatte leichtes Fieber, und sie wollte nur schlafen. Also meldete sie sich krank, während sich Sam anzog und auf den Weg zum Gemüseladen machte. Wendy fuhr zum Supermarkt, um den wöchentlichen Einkauf zu erledigen. Lena döste vor sich hin. Gegen zehn hörte sie ein leises Rufen. Sie hob den dröhnenden Kopf vom Kissen und lauschte.
»Lena? Lena?« Das war Grandad. Er klang geschwächt.
Sie schlug die Decke zurück und eilte in ihrem alten Nachthemd in sein Zimmer.
»Was ist los, Grandad?«
»Ich habe Angst, Lena. Ich glaube, es ist so weit.«
Sie begriff nicht, was er meinte. Er packte ihre Hand. Seine Finger waren eiskalt.
»Ich glaube, ich sterbe«, sagte er.
Lena wurde heiß. Sie wich zurück. »Ich rufe einen Krankenwagen.«
»Nein, nein.« Er umklammerte ihre Finger mit eisernem Griff. »Bleib hier bei mir. Lass mich nicht allein.«
»Hast du Schmerzen? Wie fühlst du dich?«
»Mir ist … kalt. Ich spüre, wie mich die Kraft verlässt.«
Lena setzte sich neben ihn, hielt seine Hand und streichelte seine runzelige Stirn. »Sei unbesorgt. Vielleicht hat das ja gar nichts zu bedeuten.«
»Doch, ich sterbe.« Er rang nach Luft. Sie wollte seine Sauerstoffmaske holen, doch er hielt sie erneut zurück. »Bleib … bei mir.«
»Deine Sauerstoff…«
»Die … nützt jetzt … auch nichts mehr.«
Er sank keuchend in sich zusammen. Seine Augenlider flatterten. Lena wusste nicht, was sie tun sollte. Sie wollte sich von ihm verabschieden, ihm sagen, dass sie ihn liebte und ihm dankbar dafür war, dass er sie dazu gebracht hatte, das Trinken aufzugeben. Aber sie war gar nicht sicher, ob er sie noch hören oder verstehen konnte. Sie dachte an ihre erste Begegnung mit Grandad, an den furchteinflößenden alten Mann, der sie mit strengem Blick gemustert hatte. Wer hätte gedacht, dass er ihr einmal so viel bedeuten, sein Tod ein so schwerer Verlust für sie sein würde! Bei dem Gedanken daran versagte ihr beinahe die Stimme. Die Zuneigung zu ihm hatte sich unbemerkt eingestellt, unerwartet, und genauso unerwartet war es nun damit vorbei.
Er riss die Augen auf, schnappte in Panik nach Luft, wollte offenbar etwas sagen.
»Pst«, machte sie. »Nicht reden. Es ist alles gesagt.«
»Nein«, presste er hervor. »Ich habe … mich richtig … entschieden.«
»Das ist gut«, sagte sie, obwohl sie nicht wusste, was er damit meinte. »Dann kannst du beruhigt hinübergehen in die andere Welt.«
»Ja, das kann ich.« Sein Lächeln geriet zur Grimasse. Er schloss die Augen, holte noch einmal tief Luft.
Und hörte auf zu atmen.
Lena liefen heiße Tränen über die Wangen. »Lebwohl, Grandad«, sagte sie zitternd. »Lebwohl.«
Lena saß im Kinderzimmer auf dem Fußboden und sortierte die Spielsachen aus, die sie in die neue Wohnung mitnehmen
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