Ueber den Himmel hinaus - Roman
schloss er mit einer ausholenden Handbewegung, wobei er den letzten Rest Wodka auf dem Teppich verschüttete.
»Und dafür bin ich die perfekte Besetzung?«, fragte Natalja empört.
»Ja.«
»Für die Rolle eines verzweifelten, alternden Flittchens?«
»Ganz recht.«
»Ich bin erst fünfunddreißig.«
»Glauben Sie etwa, Sie werden niemals vierzig? Verraten Sie mir eines, Natalja: Hat es Sie karrieremäßig weitergebracht, dass Sie in einem Stringtanga Jagd auf Marionetten gemacht haben? Haben Sie jemanden sagen hören: ›Wow, dieser Film hat mich tief berührt?‹«
Sie schwieg.
»Das dachte ich mir. Sie können sich Ihre Glaubwürdigkeit neu erarbeiten, indem Sie jetzt einen guten Film machen. Das hier ist ein guter Film, und Sie sind perfekt für die Hauptrolle, ob es Ihnen passt oder nicht. Springen Sie über Ihren Schatten.«
Sie erhob sich, stellte ihr unberührtes Glas ab und hielt ihm das Drehbuch hin. »Es war wohl ein Fehler, herzukommen.«
Er zuckte mit den Schultern. »Nehmen Sie das Skript wenigstens mit.«
»Lieber nicht, danke.«
Er verschränkte die Arme und schüttelte den Kopf. »Nehmen Sie es mit, und lesen Sie es. Wir könnten im April mit den Dreharbeiten anfangen. Ich würde ein anderes Projekt verschieben.«
Draußen auf der schneebedeckten Straße ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Sie setzte sich in ein warmes Café am Dreifaltigkeitsplatz, bestellte einen starken Kaffee und strich abwesend mit dem Daumen über die Kanten des Drehbuchs. Sie nippte an ihrem Kaffee und begann zu lesen.
Wie sie diese Lilja hasste, mit der sie so erschreckend viel gemein hatte! Wie sie Lewitski dafür hasste, dass er ihr diese Rolle angeboten hatte! Es kam ihr so vor, als hätte er ihre Seele freigelegt und in dieses Drehbuch gesteckt, obwohl er sie bis heute gar nicht gekannt hatte. Und trotzdem nahm
sie die Geschichte mit jeder Seite mehr gefangen. Zum ersten Mal las sie ein Skript, das an ihr Herz rührte.
Springen Sie über Ihren Schatten.
Sie erhob sich und stürmte mit dem halb gelesenen Drehbuch aus dem Café. Eine Frau, die gerade aus Lewitskis Wohnhaus kam, ließ sie eintreten. Natalja hastete die Treppe im Laufschritt hinauf und klopfte. Schneeflocken hingen in ihren langen Haaren, ihre Nase tropfte wegen der Kälte. Die Tür ging auf. Er hatte sich das blaue Hemd aufgeknöpft, und beim Anblick des dunklen Flaums auf seiner Brust verspürte Natalja zu ihrer eigenen Überraschung einen Anflug von Begehren.
»Sie schon wieder? Ich wollte gerade ein Bad nehmen.«
»Ich finde es großartig.« Sie wedelte mit dem Drehbuch. »Ganz großartig. Ich bin dabei.«
Sie erschrak, als er sie am Arm packte, in seine Wohnung zog und die Tür hinter ihr schloss. Einen Augenblick dachte sie, er würde sie küssen, und war enttäuscht, als er es nicht tat. »Sind Sie sicher? Wehe, Sie verschwenden meine Zeit.«
»Ganz sicher. Es ist wundervoll. Sie sind ein Genie.«
Er grinste, ein strahlendes Grinsen von einem Ohr zum anderen. »Ich weiß.« Ein wölfisches Grinsen. »Haben Sie Lust einen Happen zu essen? Wir könnten uns noch ein wenig unterhalten.«
»Ja«, sagte Natalja. Sie versuchte, nicht allzu begeistert zu klingen. »Das wäre schön.«
Die Zwillinge feierten ihren zehnten Geburtstag im Park auf den Klippen, zwei Straßen von Wendys Haus entfernt. Mittlerweile gingen Matthew und Anna in verschiedene Klassen und hatten getrennte Freundeskreise, deshalb hatte
jeder von ihnen bloß vier Gäste einladen dürfen. Die Jungs scharten sich auf der linken Seite der hölzernen Picknickgarnitur um Matthew und seinen neuen Gameboy, die Mädchen hatten die rechte Seite in Beschlag genommen, wo sie sich mit glitzerndem Lippenstift schminkten und eifrig in ihre Handy-Attrappen plapperten.
Lena stand mit Sam, seiner Mutter, seiner Schwester und deren Freundin Sue beisammen und war froh, dass ihre Schwiegermutter zur Abwechslung nicht auf ihr herumhackte, sondern diesmal Becky im Visier hatte. Trotzdem wusste sie nicht, was sie sagen sollte, schon gar nicht zu Sam, der mürrisch und schweigsam war.
»Verdammter Wind«, fluchte Wendy nach dem dritten Versuch, die Geburtstagskerzen anzuzünden.
Lena hielt sich im Hintergrund. Wendy hatte die Party organisiert und den Kuchen gebacken, und sie war ihr dankbar dafür. Sie hatte keine Zeit gehabt. Oder lag es eher daran, dass sie nicht die nötige Energie aufgebracht hatte? Sie nippte an ihrem Orangensaft und hätte alles für einen ordentlichen Schuss
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