Ueber den Himmel hinaus - Roman
mit zitternder Stimme. Sie holte tief Luft. »Und du vergiss nicht, Natalja zu bestellen, was ich dir gerade gesagt habe.«
»Ich werde ihr klarmachen, wie aufgebracht du bist«, versprach Sofi.
»Es bringt mich um, wenn ich mir die beiden zusammen vorstelle.«
Lenas resignierter Tonfall brach Sofi schier das Herz. »Kann ich mir vorstellen. Es tut mir leid, Lena. Das hast du nicht verdient.«
Lena seufzte. »Vielleicht doch. Roy Creedys Fluch.«
»Das darfst du dir nicht einreden«, wiegelte Sofi ab, doch ihre tiefsitzende Angst kehrte zurück. Ihr wurde klar, dass sie sich im Geiste bereits für die nächste Katastrophe rüstete. Was würde als Nächstes geschehen?
Als Lena am Weihnachtsabend nach ihren Kindern sah, erwischte sie ihre Tochter dabei, wie sie aus dem Fenster ihres Zimmers klettern wollte.
»Was machst du denn da?«, fragte sie und zog Anna sanft von der Fensterbank herunter.
»Ich laufe weg. Ich will bei Daddy wohnen.«
Matthew tat, als würde er schlafen, um jeglichem Ärger aus dem Weg zu gehen.
»Du kannst aber nicht bei Daddy wohnen. Du wirst hier bei mir bleiben müssen.«
»Warum?«
»Weil ich deine Mutter bin.«
Es war ein langer, anstrengender Tag gewesen. Wendy hatte sie alle gezwungen, zum Mittagessen zu ihr zu kommen. »Wir sollten unsere Differenzen beilegen, um der Kinder willen, und den Tag gemeinsam verbringen«, hatte sie gesagt. Doch kaum waren sie bei ihr gewesen, hatte sie die Spielregeln geändert. Sie hatte sich Lena gegenüber unhöflich verhalten und sie offen angefeindet, wann immer
sie allein waren. Sam hatte den Superdaddy gemimt und den Kindern viel zu teure Spielsachen geschenkt. Vielleicht konnte er sich das ja jetzt leisten, nachdem er wieder bei seiner Mutter eingezogen war. Vielleicht hatte er aber auch alles auf Pump gekauft und war schon auf der Suche nach einer neuen hart arbeitenden Frau, die seine Schulden für ihn abzahlte.
Schon bei der Vorstellung wurde Lena übel. Sam mit einer anderen Frau. Trotzdem konnte sie ihm nicht verzeihen.
Vielleicht sollte sie ihm die Kinder aufhalsen. Zumindest Anna, die sich von Anfang an auf seine Seite geschlagen hatte. Doch nein, Geschwister gehörten zusammen, das wusste sie aus eigener Erfahrung.
Das Schlimmste war, dass sie Natalja vermisste. Nicht die eitle Schwester, die sie hintergangen und ihre Ehe zerstört hatte, sondern die lebhafte, mitfühlende, starke große Schwester, die sie beschützt hatte, mit der man Spaß haben konnte.
Als Anna endlich ihren Pyjama angezogen hatte und im Bett lag, setzte sich Lena zu ihr auf die Bettkante und streichelte ihr über den Kopf. Doch ihre Tochter schob beleidigt die Unterlippe nach vorn und funkelte sie böse an.
»Anna, bitte«, schmeichelte Lena. »Ich liebe dich, Kleines. Ich will mich nicht mit dir streiten.«
»Ich weiß, warum du und Daddy euch getrennt habt«, sagte Anna hinterhältig. »Und ich finde es schade, dass Daddy nicht Tante Nat geheiratet hat. Sie wäre eine viel bessere Mum als du.«
Lena schnappte nach Luft, zwang sich jedoch, ruhig zu bleiben. »Tja, du wirst dich eben damit abfinden müssen, dass ich deine Mutter bin.«
Anna drehte ihr den Rücken zu. Lena gab Matthew einen Gutenachtkuss, dann ging sie ins Wohnzimmer, das immer viel aufgeräumter aussah seit Sams Auszug, und liebäugelte mit der Flasche Wein, die sie von seiner Schwester Becky zu Weihnachten bekommen hatte. Es war lange her, seit Lena auf Grandads Geheiß dem Alkohol abgeschworen hatte, aber heute verspürte sie mehr denn je das Bedürfnis, ihre Gefühle zu betäuben.
Sie entkorkte die Flasche und schenkte sich ein, lehnte sich mit dem Glas auf dem Sofa zurück und weinte noch ein wenig.
KAPITEL 43
Natalja blieb zögernd vor Maxim Lewitskis Wohnhaus auf der Petrograder Seite der Newa stehen. Das Gebäude, Ende des neunzehnten Jahrhunderts im stil modern , dem russischen Jugendstil, errichtet, hatte schmale Bogenfenster mit dekorativen Holzrahmen, und über das versperrte Eingangstor erstreckte sich ein gemeißeltes Blumenrelief. Die Abenddämmerung hatte früh eingesetzt, Schneeflocken wirbelten umher. Maxim Lewitski wollte sie nicht empfangen, jedenfalls hatte seine Sekretärin das wiederholt behauptet. Doch Natalja ließ sich nicht abwimmeln. Immerhin hatte Lewitski über ein Jahr lang hartnäckig versucht, sie zu engagieren, und sie hatte ihm über Leida immer wieder eine Abfuhr erteilt. Sein Interesse an ihr konnte doch nicht völlig erloschen sein. Es sei
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