Ueber den Himmel hinaus - Roman
Wodka getan. Sie fand Sams Nähe schier unerträglich und geriet ständig in Versuchung, ihn anzustarren oder ihn zu berühren. Er verhielt sich den Kindern gegenüber fröhlich und herzlich, und sie wusste, die beiden würden nachher mit ihr schmollen, weil er nicht mit ihnen nach Hause gehen durfte. Seit der Trennung hatte sie sich unzählige Male gefragt, warum sie ihn nicht einfach bat, wieder bei ihnen einzuziehen. Sie gehörten doch zusammen. Doch dann war ihr wieder eingefallen, was er getan hatte, und ihr Herz war wieder zu Stein geworden.
Nach dem Kuchenessen machten Becky und Sue einen Spaziergang, und Wendy stellte sich - auf Lenas Bitte hin - mit ihrer Zigarette etwas abseits von den Kindern. Nun saß
sie mit Sam allein auf der Bank, umgeben von kreischenden, lachenden Kindern. Im Hintergrund donnerte der Ozean. Die Sonne stand hoch am Himmel, die Wolken waren so weiß, dass es blendete. Sam schwieg.
Schließlich fragte er: »Und, alles klar bei dir?«
Der Wind hatte seine langen Haare zerzaust, und sie konnte sich nur mit Mühe davon abhalten, sie glattzustreichen. »Mehr oder weniger. Und bei dir?«
»Auch.« Er lächelte zaghaft. »Es ginge mir besser, wenn wir zusammen wären.«
»Daran hättest du früher denken sollen«, erwiderte sie bissig.
»Hey«, er hob abwehrend die Hände. »Ich will keinen Streit. Ich will nur reden.«
Sie unterdrückte den Impuls, ihm eine Flut an Beschuldigungen an den Kopf zu werfen, und zwang sich zu einem etwas versöhnlicheren Tonfall. »Also gut, lass uns reden.«
»Anna möchte zu mir ziehen.«
Lena seufzte. »Ich weiß.«
»Hältst du das für keine gute Idee?«
Im Augenblick hielt sie es für eine hervorragende Idee. Anna war bockig, störrisch, eindeutig auf dem Weg in die Pubertät.
»Ich will nicht, dass sie getrennt werden. Als ich klein war, hatte ich nur meine Schwester.« Sie verstummte, weil ihr Tränen in die Augen stiegen. Sie blinzelte.
Sam schwieg.
»Hältst du es denn für eine gute Idee?«, fragte Lena.
»Nein. Mir wäre es auch lieber, wenn sie zusammenblieben. Und Matthew würde niemals bei mir leben wollen. Er ist ein richtiges Muttersöhnchen, genau wie ich.« Sam lachte leise.
»Dann sind wir uns also einig? Anna bleibt bei mir?«
»Ja, auch wenn sie alles andere als begeistert sein wird.«
Seine Worte versetzten Lena einen Stich. Sie waren ein so gutes Gespann gewesen, tolle Eltern, auf der gleichen Wellenlänge. Warum nur hatte er das Unverzeihliche tun müssen?
»Zehn Jahre«, sagte Sam. »Die Zeit ist wie im Flug vergangen.«
Lena antwortete nicht. Sie dachte daran, wie sie damals im Krankenhaus aufgewacht war. Sam hatte so jung und verängstigt und hoffnungsvoll zugleich ausgesehen. Wie wahnsinnig verliebt sie damals gewesen waren! Und jetzt saßen sie hier, mit einem Meter Sicherheitsabstand, grollten einander und hatten Angst, das Falsche zu sagen. Sie hatten noch nicht über Scheidung gesprochen, aber welche andere Möglichkeit gab es schon?
Wendy kehrte zurück, nach Zigarettenrauch stinkend. »Sieht aus, als würde sich was zusammenbrauen.« Sie deutete auf die dunklen Wolken, die über dem Meer heraufgezogen waren. »Wir sollten zusammenpacken.«
Es dauerte Stunden, bis sich die Kinder wieder einigermaßen beruhigt hatten. Als um sechs Sofi anrief, um ihnen zu gratulieren, waren sie noch viel zu aufgekratzt, um sich längere Zeit mit ihr zu unterhalten. Lena schickte sie zum Spielen nach draußen und beobachtete sie durch das Küchenfenster, während sie mit Sofi telefonierte.
»Du klingst müde«, stellte ihre Cousine fest.
»Welche Mutter ist das nicht?«
Es zehrte an ihren Kräften, ganztags zu arbeiten und sich nach Feierabend allein um die Zwillinge zu kümmern. Dazu kam, dass sie auch die Miete allein bestreiten musste. Die Kinder beschwerten sich ständig darüber, dass sie an
allen Ecken und Enden sparte. Trotzdem hatte sie Geldsorgen. Sam steuerte zwar etwas bei, aber die Hauptlast ruhte auf Lenas Schultern. Wenn sie doch nur den Mut aufbrächte, Sofi um Geld zu bitten, damit sie ihr Haus sanieren konnte! Dann könnte sie mit Anna und Matthew nach Little Ayton ziehen und sich eine Halbtagsstelle suchen.
Stattdessen sagte sie: »Ich werde es schon irgendwie schaffen.«
»Du brauchst Urlaub. Komm doch nach Weihnachten nach Frankreich. Dieses Jahr bin ich an der Reihe.«
Lena schnaubte empört. Bei jedem Telefonat kam Sofi wieder auf ihr jährliches Treffen zu sprechen. Sie wollte, dass sie alle
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