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Ueber den Horizont hinaus - Band 1

Ueber den Horizont hinaus - Band 1

Titel: Ueber den Horizont hinaus - Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Lenz
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bevor sich die Augen öffneten. Christian blinzelte, seufzte und dann richtete sich sein Blick auf Olaf.
    Der Ältere erstarrte einen Moment, fürchtete für einen Augenblick, dass Christian nun mit Panik reagierte, ihn von sich stieß, anschrie oder Hals über Kopf flüchtete.
    Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen breitete sich ein vorsichtiges Lächeln über dem Gesicht des Jüngeren aus, unendlich zaghaft und doch süßer als jedes Bisherige.
    Christian legte eine Hand gegen Olafs Wange und flüsterte: „Du ahnst nicht, wie lange ich darauf gewartet habe.“
    „Chris…“ Olaf wusste nicht, was er sagen sollte. Er schämte sich und doch jubilierte etwas in ihm.
    „Du hast mich befreit“, wisperte Christian und schloss seine Augen.
    „Befreit wovon?“, fragte Olaf leise und verwirrt.
    „Von meinen Dämonen“, flüsterte Christian und schloss seine Augen, als wäre es ihm peinlich. „Befreie mich noch einmal!“, sagte er dann. „Bitte!“
    Olaf schloss ebenfalls seine Augen. Es fühlte sich sicherer an.
    „Fühlst du dich nicht schuldig?“, fragte er leise.
    Die Decke raschelte und dann spürte er Christians Lippen auf seinen.
    „Nein“, antwortete der Jüngere. „Es musste so kommen.“
    *
    Sie liebten sich ein weiteres Mal, duschten gemeinsam. Olaf fühlte sich wie in einem Rausch, aus dem er nicht erwachen durfte. Weil er genau wusste, dass auf das Erwachen der Schrecken folgte.
    Er klammerte sich durch die Stunden des Vormittags an die Erinnerung, verwahrte sie wie ein geheimes, kostbares Gut, entschlossen, es niemals preiszugeben, und wenn es sein Leben kostete.
    Was wusste er schon? Was ahnt der Mensch von seiner Zukunft?
    Mit halbem Ohr nur hörte Olaf auf Hannibals Belehrungen, gefangen in einer Trance, aus der zu entweichen bedeuten würde, den Dingen ins Auge zu sehen, denen er nicht ins Auge sehen konnte.
    Wie es weiterging? Was nach diesem Tag, nach der nächsten Stunde geschehe. Wie er handeln, wie er reagieren sollte.
    Und doch gab Hannibal nicht auf, wies ihn durch die Unterlagen, erteilte ihm genaue Instruktionen, vergab Anweisungen, beschrieb die Art und Weise, in der er sein Vorgehen erwartete.
    Nur noch wenige Stunden, dann könnten sie dieses Haus verlassen, dann würden sie in Ruhe über alles sprechen oder auch nicht sprechen.
    Olaf schloss seine Augen und verjagte die Gedanken an die Zukunft.
    Vielleicht war die letzte Nacht ein Fehler gewesen – nein – mit Sicherheit war sie ein Fehler gewesen – daran existierte niemals ein Zweifel.
    Doch nur vielleicht hatte, was sie getan hatten, Christian zur Besinnung gebracht.
    Vielleicht würde er sich nun von ihm abwenden, vielleicht hatte er diese letzte, ultimative Sünde gebraucht, um sich von Olaf zu lösen, um endlich sein eigenes Leben in die Hand zu nehmen.
    Olaf fror bei dem Gedanken und er verabscheute sich selbst für die in ihm aufsteigende Furcht. Eine Aussicht, die ihm eigentlich wünschenswert erscheinen sollte, die objektiv betrachtet, als einzige Alternative einen akzeptablen Kern beinhaltete, schmerzte ihn aus verabscheuungswürdig, eigensüchtigen Gründen.
    Er fürchtete die Kälte, die ihn ohne Christians Nähe, ohne seine Umarmung, ohne das Wissen, dass er für ihn da war und dies immer sein würde, unwiderruflich einholen musste und gleichzeitig fürchtete er sich davor, diese Furcht anzuerkennen.
    *
    Hannibal entließ ihn in ein Gespräch mit seiner Mutter, deren ungeschickt verborgene Andeutungen über den Wert von Ehe und Familie an ihm abprallten, nahm er sie doch lediglich am Rande wahr.
    Und als er sich endlich von ihr verabschieden konnte, trieb ihn der Wunsch nach einem Glas Wasser und einer zweiten Kopfschmerztablette direkt in die leerstehende Küche.
    Olaf leerte gerade den letzten Schluck in seine Kehle, als er in seinem Rücken spürte, dass sich ihm jemand näherte.

Er drehte sich um und blickte auf Christian, der mit den Händen in seinen Hosentaschen begraben, auf ihn zu schlenderte.
    „Hey“, sagte der Jüngere leise und lächelte vorsichtig, zaghaft, halb, als befürchte er einen Ausbruch, eine Ablehnung oder eine Geste der Verachtung.
    „Hey“, antwortete Olaf leise und stellte sein Glas langsam auf den Küchentisch.
    Er spürte, wie sein Hals sich verengte, doch nicht in der Vorahnung von etwas Unangenehmen, sondern in positiver Erwartung.
    Das sah nicht so aus, als hege Christian einen Vorbehalt oder gar Groll gegen ihn, oder gegen das, was sie getan hatten.
    Und Olafs letzte

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