Ueber den Horizont hinaus - Band 1
Zweifel wurden zerstreut, als Christian seine Hände aus den Taschen nahm, sich Olaf einen weiteren Schritt näherte und ihm dann die Arme um den Hals schlang, seine Lippen suchte, als wäre er ein Verdurstender auf der Suche nach dem lebensrettenden Trunk.
Ein Seufzer der Erleichterung entfuhr Olaf, als die Welt um ihn herum versank, als er seinen Mund auf den des Bruders presste und die Geborgenheit schmeckte, die er in diesem Haus stets vergeblich gesucht hatte, die sie beide dort, wie Olaf wohl ahnte, nie finden konnten.
Seine Lippen öffneten sich, seine Finger vergruben sich in Christians Haar, in dem Stoff seines Hemdes, als ein Laut der Empörung ihn wie ein Peitschenschlag durchfuhr.
Christian blieb achtlos, seine Arme schlangen sich weiter um Olaf, sein Mund bewegte sich hungrig gegen Olafs Lippen, auch als dieser sich bemühte, seinen Kopf zu drehen, instinktiv ahnte, dass etwas Furchtbares geschah, dass es bereits zu spät war, um den Kopf aus der Schlinge zu ziehen.
Ein Schlag traf Olaf, ließ ihn seitwärts taumeln, brachte Christian vor ihn.
Und schon fühlte er, wie der andere von ihm fortgerissen wurde, beobachtete mit verschwommenem Blick und immer noch nach seinem Gleichgewicht tastend, wie Hannibal Christian einen Kinnhaken versetzte, der den Jüngeren gegen die Küchenwand beförderte.
„Du Monster“, schrie der Vater und sein Zorn richtete sich auf Christian, der sich mit einer Hand gegen die Wand abstützte, mit der anderen nach seinem schmerzenden Kinn griff.
„Du verkommenes Subjekt, ich habe es immer gewusst…“
Olaf hastete vorwärts, versuchte zwischen Vater und Bruder zu gelangen.
Christian kicherte, obwohl der Laut eher einem Wimmern glich.
„Mistkerl“, schrie Hannibal und drängte sich an Olaf vorbei, der ihn an der Schulter packte und festhielt. „Paps, beruhige dich…“
„Ach komm schon“, zischte Christian heiser und leckte sich einen Blutstropfen von der aufgesprungenen Lippe.
„Tu doch nicht so, als hättest du ein Problem mit Inzest. Ausgerechnet du!“
Hannibal schlug nach ihm aus, doch Olaf hielt ihn. „Paps, lass ihn in Ruhe. Es ist meine Schuld.“
„Ihr verdammten Versager“, keuchte der Vater. „Ich… ich lasse nicht zu, dass ihr mir alles kaputt macht.“
Er warf sich mit all seiner Kraft nach vorne und es gelang ihm, Olaf ausreichend ins Schwanken zu bringen, dass er ausholen und einen weiteren Schlag in Christians Gesicht landen konnte.
„Du bist das Monster. Ich hätte dich umbringen sollen, noch bevor sie dich geworfen hat.“
„Was ist hier los?“
Helenas Stimme drang aus der Richtung des Esszimmers zu ihnen. „Was soll der Lärm?“
Olaf, der sich wieder gefasst hatte, duckte sich unter Hannibal hinweg, legte einen Arm um Christian und zog ihn mit sich, fort von dem tobenden Vater.
Er blockte dessen Zugriff mit seinem eigenen Körper ab und schob den taumelnden jungen Mann seitlich hinaus aus der Küche, durch den Seitengang und die Empfangshalle.
Hinter ihnen hörte er die aufgeregte Stimme seiner Mutter und das hasserfüllte Grollen seines Vaters, legte einen weiteren Schritt zu und eilte mit Christian im Arm hinaus aus dem Haus, über den Kies, bis an den hinteren Rand der Auffahrt, wo er seinen Wagen geparkt hatte.
„Was…“, wehrte sich Christian auf einmal.
„Wir fahren.“ Olaf stieß den Jüngeren gegen das Auto und durchsuchte seine Taschen nach den Schlüsseln. „Wir bleiben nicht hier.“
Sein Kopf fuhr herum, als er das Aufklappen der Haustür hörte, als ihr Vater hinaus lief, die Mutter abschüttelte, die ihn vergeblich am Ärmel zu packen versuchte.
„Ihr seid verflucht“, schrie Hannibal. „Ich verfluche euch, ihr seid beide wahnsinnig!“
Endlich gelang es Olaf, die Wagentür zu öffnen. Endlich konnte er Christian vorwärts dirigieren und dieser gehorchte, schlüpfte rasch auf den Beifahrersitz.
Olaf rannte beinahe um das Auto herum, sprang durch die Tür, die sein Bruder ihm bereits aufgestoßen hatte, ließ den Wagen an und startete mit quietschenden Reifen und hässlichem Knarzen des Kiesweges unter ihnen.
Hinaus aus dem Tor fuhr er, während der Motor aufjaulte, um die Kurve und weiter die Straße entlang.
Olafs Herz raste, sein Blut wirbelte durch seine Adern, ebenso wie die Worte, die Hannibal ihnen nachgerufen hatte.
Doch gab es da noch etwas, etwas, das er bislang versäumt hatte, das er nicht verstand und von dem er nicht sicher war, ob er es überhaupt verstehen wollte.
Der Wagen
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