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Ueber den Horizont hinaus - Band 1

Ueber den Horizont hinaus - Band 1

Titel: Ueber den Horizont hinaus - Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Lenz
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Menschen früher oder später erdrückte.
    Aber Christian erdrückte sie nicht. Irgendwie schaffte er es, diese Jahre zu überstehen, ohne den leeren und düsteren Blick ihrer Eltern anzunehmen, ohne die stumme Gefühllosigkeit zu übernehmen, welche diese atmeten.
    Olaf gelang es meist, seine Schuldgefühle beiseite zu drängen. Immerhin war es nicht seine Aufgabe, sich um den kleinen Bruder zu kümmern. Er hatte Besseres zu tun, Wichtigeres. Er musste sein Leben führen, das Beste leisten, zu dem er imstande war, bis an die Grenzen gehen. Und er war bereit und willens, diese Aufgabe auf sich zu nehmen, war es immer gewesen.
    Lediglich während der pflichtgemäßen Familientreffen, der wenigen Ferien, die er zu Hause verbrachte, bäumte sich das Gespenst auf, wollte ihn nicht los lassen. Bis er wieder fort war, eine Weile fort und eingebunden in sein eigenes Leben, das ihm alles abverlangte.
    Mehr als auf alles andere, freute er sich dennoch jedes Mal darauf, Christian wiederzusehen. Mehr als auf seine Eltern, mehr als auf das Zimmer, in dem er seine ersten Jahre verbracht hatte, und das immer noch die Comics und Spielsachen enthielt, für die er damals bereits zu wenig Zeit gehabt hatte.
    Und jedes Mal wieder war er überrascht, vielleicht sogar ein wenig erschrocken, sobald er der Veränderungen gewahr wurde, die in dem Jungen vorgegangen waren, seitdem sie sich das letzte Mal gesehen hatten.
    Christian wuchs für ihn in Schüben, verwandelte sich in Sekundenschnelle vom Kleinkind zum Sechsjährigen, vom Schulkind in einen Teenager.
    Immer sah er ihn an mit diesem Ausdruck, den Olaf nur als stumme Frage deuten konnte. Als die Frage, die er sich selbst auch immer stellte: Wie nur brachte Olaf es fertig, ihn so lange alleine zu lassen.
    Als Christian größer wurde, sich der Schwelle zum Erwachsenwerden näherte, begann sich zu Olafs Schuldgefühlen etwas anderes zu addieren, etwas, das er lange nicht erkannte, dann verleugnete und das er sich immer weigern würde, zuzugeben. So dachte Olaf.
    Und er gab Christian die Schuld. Christian, der sich so anhänglich zeigte, der ihm auf Schritt und Tritt folgte, sobald er eingetroffen war. Christian, der seine Hände nicht von ihm lassen konnte, der ihn umarmte, sich an ihn hängte, ihm durch das kurze Haar strich, als gäbe es nichts Faszinierenderes auf der Welt. Nichts Faszinierenderes, als die Widerspenstigkeit von Olafs meist streng zurückgekämmten Haar, das er so sorgfältig in Schach hielt, und dem doch nicht viel fehlte, um ihm ein wildes, wirres Aussehen zu verleihen, kamen die Strähnen durcheinander, entwickelten ein Eigenleben und standen plötzlich in alle Himmelsrichtungen ab.
    Zu dieser Zeit fiel Olaf auch Christians absurde Frisur auf, die Art, wie er die dunklen Strähnen während des Dinners über die Stirn fallen ließ, um mit seinen dunklen Augen darunter hervor zu linsen. Olaf wusste, dass Christian ihn beobachtete und er wusste ebenso gut, dass Christian glaubte, er würde es nicht merken, dass sein Haarschopf ihn vor der Entdeckung schützte.
    Christian war sein kleiner Bruder und er würde es auch immer sein. Auch, wenn es Olaf bislang nicht gelungen war, seiner Rolle nur annähernd gerecht zu werden, so vergaß er doch nicht, worauf es dabei ankam.
    Es war seine Pflicht, Christian zu beschützen. Und wenn es sein musste, dann auch vor sich selbst zu schützen.
    So dachte Olaf und hob sein Glas an die Lippen, um endlich zu trinken.
    Daran änderte sich auch nichts, nachdem Christian erwachsen geworden war, ihr Elternhaus verlassen und sich in einem kleinen, in Olafs Augen schäbigen Apartment eingemietet hatte.
    Christian war nun ein Mann, er übte einen Beruf aus, so verächtlich ihre Eltern auch über diesen sprechen mochten, und er führte sein eigenes, selbstständiges Leben, unabhängig von all dem, womit die Familie Olaf für immer an sich gebunden hatte und immer an sich binden würde.
    Und Olaf fühlte wieder den leisen Stachel der Eifersucht, der ihn doch noch gelegentlich quälte, erlaubte es sich vorzustellen, wie sein Leben aussähe, hätte er sich von Anfang an gegen die Bevormundung, gegen die Fremdbestimmung von außen gewehrt.
    Olaf trank. Die Flüssigkeit rann scharf seine Kehle hinunter. Es hatte keinen Sinn darüber nachzudenken, und Olaf war zu pragmatisch, um weiterhin seine Zeit mit nutzlosen Betrachtungen zu verschwenden.
    Selbst wenn es für ihn eine Wahl gegeben hätte, so stünde er nun nirgendwo anders. Er gehörte an

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