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Ueber den Horizont hinaus - Band 1

Ueber den Horizont hinaus - Band 1

Titel: Ueber den Horizont hinaus - Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Lenz
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Strähnen einzuschränken.
    Der Verdacht, er wollte sich hinter einem Vorhang verstecken, den er jederzeit nach Belieben zuziehen konnte, wollte er sich von der Welt abgrenzen, in seiner eigenen, verschrobenen Vorstellung des Lebens verbleiben, holte Olaf regelmäßig wieder ein.
    Und doch musste er zugeben, dass Christians Haar zu dem Jungen passte, weitaus besser als die anderen Haarschnitte, die der während seiner rebellischen Jugendphasen ausprobiert hatte.
    Anders als Olaf, der sein Haar stets kurz und praktisch geschnitten trug, funktionell, wie er sich ausdrückte.
Die beiden waren nicht nur in dieser Hinsicht vollkommen verschieden und der Grund dafür lag nicht nur in ihrem Altersunterschied, sondern vor allem in ihrem Wesen begründet.
    Christian war ein Träumer, ein Weltverbesserer, wohingegen Olaf von dem Wunsch nach Macht angezogen und geleitet wurdet, nach Einfluss, getrieben von dem Drang, etwas zu seinen Gunsten zu verändern.
    Olaf seufzte und stellte das Glas zurück, ohne davon getrunken zu haben. Manchmal fragte er sich, ob es seine Schuld war, seine Eigenheit, die Unruhe in ihm, die ihn stets wach hielt, in Alarmbereitschaft, die ihn zum handeln zwang. Oder ob es nicht doch an ihren Eltern lag, die ihm von Anfang an eine andere Behandlung hatten zukommen lassen als dem kleinen Bruder.
    Als Erstgeborener lasteten von Anfang an die Erwartungen auf ihm, und damit ein Druck, den Olaf von Jahr zu Jahr zunehmend als Last empfand. Nicht, dass er sich je dagegen gewehrt hatte. Nein, keine Sekunde hatte er jemals gezögert, sich keinen einzigen Zweifel erlaubt. Es wäre ihm unfair vorgekommen, nach allem, was seine Eltern für ihn getan hatten, nach der teuren Ausbildung, den Elite-Internaten und den Chancen, die ihm auf dem Silbertablett dargeboten wurden.
    Selbstverständlich waren sie auch immer deutlich gewesen, worin im Gegenzug seine Pflichten lagen, wie er zu Handeln habe und inwiefern er seine Dankbarkeit immer und immer wieder von Neuem zu Beweis stellen musste.
    Und manchmal, wenn auch nur selten, beneidete Olaf Christian um dessen Freiheit, um die Möglichkeit, zu tun, was immer ihm in den Sinn kam, ohne den festgefahrenen Mustern folgen zu müssen, in die er selbst von Kindheit an gepresst worden war.
    Doch wusste Olaf sehr gut zu welch hohem Preis Christian sich diese Freiheit erkauft hatte, ob es denn in dessen Absicht gelegen hatte oder auch nicht.
    Seit seiner Geburt hatte Christian sich nie mit den Erwartungen auseinandersetzen müssen, die auf Olaf lasteten. Christians Freiheit bestand in einer Gleichgültigkeit, die Olaf nur deshalb nicht spürte, weil seine Leere mit den Aufgaben und Pflichten erfüllt wurde.
    Nur in den seltensten Momenten bemerkte Olaf die wohl verborgene Missachtung seiner Eltern. Es waren dies die Momente, in denen er selbst nicht ganz in der Spur lief, die wenigen Augenblicke, in denen er versuchte, eine eigene Meinung zu entwickeln, einen Gedankengang zu verfolgen, der nicht mit dem seiner Familie konform lief.
    Dann fühlte er einen Hauch der Kälte, der Christian ständig ausgesetzt war und der sein Bruder nur entkam, indem er sich in Phantasien verstrickte, die ihn aus der Welt, wie sie sich ihm bot, entführten. Indem er Ziele entwickelte, die so entfernt von denen ihrer Eltern waren, dass sie zumindest die Geringste aller Reaktionen hervorriefen.
    Standhaft hatte er sich geweigert, die Militärschule zu besuchen oder eines der anderen Internate, die ihm vorgeschlagen worden waren.
    Olaf war ihm in dieser Beziehung spontan und für ihn selbst überraschend zur Hilfe gekommen. Sah er doch nicht, dass ein sensibles Kind wie Christian in einer Hierarchie, in der es hauptsächlich um Konkurrenzdenken und Ellbogen ging, bestehen konnte.
    Nein, hatte er damals zu seinen Eltern gesagt, in einem der Augenblicke, die ihn in deren Augen neben die Spur brachten. Nein, das ist nichts für Christian. Und sie mussten ihm glauben, wusste er doch besser als jeder andere, wovon er sprach.
    Als Christian dann Krankenpfleger werden wollte, anstatt in die Anwaltskanzlei einzusteigen, hatte er ihm wieder den Rücken gestärkt. Es war das Mindeste gewesen, was er für ihn tun konnte, ein winziges Zeichen von Solidarität, die jedoch niemals die langen Phasen seiner Abwesenheit von zu Hause gut machen konnte, die Zeiten, in denen er Christian allein ließ. Allein mit der Kälte und Lieblosigkeit eines großen und dunklen Hauses, allein in einer Hoffnungslosigkeit, die jeden

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