Ueber den Horizont hinaus - Band 1
diesen Ort, sein Leben gehörte zu ihm. Es war richtig und sofern etwas wie eine Bestimmung existierte, so war dies die seine.
Olaf sah auf, als sich der Schlüssel im Schloss drehte.
Rasch trank er einen weiteren Schluck und füllte dann sein Glas wieder, ohne dabei zuzusehen, wie die Tür sich öffnete. Er wusste auch so, wer es war.
Diese Stadtwohnung war Olafs heimliche Zuflucht. Den wenigsten Menschen gab er die Adresse und der Einzige, der einen Schlüssel besaß, war sein Bruder.
„Chris“, sagte Olaf ohne aufzusehen, lauschte nur dem vertrauten Schritt, dem Plumpsen des Rucksackes, den Christian neben der Tür fallen ließ, ebenso wie dem Geräusch der Jacke, aus der der Jüngere schlüpfte, nur um sie ebenso achtlos auf den Boden fallen zu lassen.
Olaf unterdrückte ein Lächeln. Der Einzige, dem er dies durchgehen ließ, war sein kleiner Bruder. Bei jedem anderen hätte er längst verlangt, dass er seine Sachen ordentlich aufräumte, doch bei Christian war er in der Lage, die Unordnung zu übersehen.
„Was tust du hier?“, fragte er immer noch ohne aufzusehen.
Schnelle Schritte näherten sich und Christian ließ sich mit einem Seufzer neben ihm auf das Sofa sinken.
Erst jetzt wand Olaf sich zu ihm um und erschrak leicht über die Blässe in Christians Gesicht.
„Was ist los?“, fragte er unwillkürlich und es gelang ihm gerade noch seine Hand zu stoppen, die sich wie von selbst auf Christians legen wollte.
„Was ist geschehen?“ Doch Christian schüttelte nur den Kopf, erlaubte es seinen Strähnen das bleiche Gesicht zu verdecken.
Noch ehe Olaf wusste wie ihm geschah, hatte der Jüngere seine Arme um ihn geschlungen und sich gegen ihn gelehnt. So wie er es Jahre zuvor, noch ehe er zum Mann geworden war, noch ehe er zumindest ein Mindestmaß an Zurückhaltung gelernt hatte, stets getan hatte.
Olaf erschauerte und er verwünschte den letzten Drink, wusste er doch nur zu gut, wie es um seine Selbstkontrolle unter Alkoholeinfluss bestellt war. Auch ohne benötigte er wenig Überredungskunst, gab er seinem Verlangen zu oft und zu rasch nach, als gut für ihn war.
Doch wenn er getrunken hatte, fand er sich gelegentlich in Situationen wieder, die ihm noch im Nachhinein die Schamesröte in die Wangen trieben.
Am schlimmsten war es, wenn er sich am Morgen den großen Augen eines jungen Mannes gegenübersah, eines Mannes, der verdächtige Ähnlichkeit mit Christian aufwies, der lange, dunkle Haare trug, hinter denen er sein jugendliches Gesicht versteckte. Eines Mannes, der für sein Alter fast zu schmächtig wirkte und der dennoch, wenn es um das Eine ging, eine Direktheit an den Tag legte, die Olaf erröten ließ.
Jedes Mal wieder verabscheute er sich selbst im Nachhinein, verabscheute sich für diese kranke Begierde, für das Verlangen, von dem er genau wusste, dass er es niemals zulassen durfte, wenn nicht alles noch viel schlimmer, noch viel schwieriger werden sollte, als es ohnehin schon war.
Deshalb bemühte Olaf sich, seinen Alkoholkonsum in Grenzen zu halten. Deshalb trank er meist nur hinter verschlossenen Türen, wenn er sicher war, und wenn er sich in ausreichender Entfernung zu Christian aufhielt.
Doch jetzt war Christian bei ihm und Olaf spürte die Wärme seines Körpers, fühlte das seidig weiche Haar, das seinen Hals kitzelte. Und er stöhnte leise.
„Was ist?“, war es diesmal an Christian zu fragen. „Was hast du?“
Doch Olaf schüttelte nur seinen Kopf, unfähig zu antworten. Er presste seine Zähne zusammen, spürte seinen Körper erzittern, als Christians Hand seinen Arm hinauf wanderte.
„Es ist in Ordnung“, flüsterte Christian. „Ich fühle es auch.“
Ende
Nieselregen
Er stand auf dem Dach und hielt sein Gesicht dem Regen entgegen, als fühle er ihn zum ersten Mal.
Sein Haar klebte an der Stirn und seine Kleider waren bereits durchtränkt, obwohl es sich um nicht mehr als ein leichtes Nieseln handelte.
Doch er befand sich inzwischen lange genug an dieser Stelle, um die kalte Flüssigkeit wie eine nasse Folie auf seiner Haut zu spüren.
Es war ein gutes Gefühl. Der Regen kühlte die Hitze, die in ihm aufstieg. Hitze, die einzuordnen ein Problem darstellte, über das Sebastian sich noch weigerte nachzudenken.
Und wenn doch, dann versuchte er sich davon zu überzeugen, dass es Scham war, die sein Gesicht glühen ließ, Scham, die ihn dazu trieb, sich vor den Blicken anderer zu verstecken, indem er über die Nottreppe den Weg auf das flache Dach des
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