Ueber den Horizont hinaus - Band 1
beeindruckenden Bücherwänden auch eine wohl ausgestattete Hausbar. Vorgeblich um Gäste und Geschäftspartner zu bewirten, doch eigentlich - und dazu wurde sie überwiegend genutzt - um seinen abendlichen Durst zu stillen, beziehungsweise seine Nerven zu entspannen.
Demzufolge überraschte es Olaf nicht, seinen Vater mit einem Glas Scotch in der Hand vorzufinden, immer noch in steifer Haltung, doch bereits wesentlich entspannter als in dem Augenblick, in dem Olaf ihn vom Fenster aus beobachtet hatte.
Hannibals Blick richtete sich auf die Wand, doch die Leere darin bestätigte, dass er diese längst nicht mehr bewusst wahrnahm.
Olaf blieb einen Moment im Türrahmen stehen, zögerte und räusperte sich dann leise. Sein Vater blinzelte, kehrte zurück in die Gegenwart und schenkte ihm ein Lächeln.
„Olaf!“, sagte er. „Wie geht es dir, mein Sohn?“
Olaf ging einen Schritt vorwärts, blieb kerzengrade stehen und faltete die Hände auf dem Rücken.
„Danke, Vater. Es geht mir gut.“
Hannibal nahm einen Schluck. „Schule?“, fragte er dann kurzangebunden.
„Sie macht mir große Freude“, antwortete Olaf artig.
„Schön… das ist schön“, entgegnete Hannibal, augenscheinlich in seinen Gedanken bereits woanders.
Mit einem Zwinkern meldete er sich nach einer kurzen Pause zurück. „Und… die Noten? Ich gehe davon aus, dass sie mich stolz machen werden.“
„Das werden sie.“ Olaf stand noch strammer als zuvor. Ein wohlwollendes Nicken entließ ihn aus der Inspektion, als Hannibal seinen Blick wieder auf den unsichtbaren Fixpunkt an der Wand richtete.
„Hast du deine Mutter schon gesehen?“, fragte er nach einer Pause, die Olaf beinahe vermuten ließ, er sei für diesen Tag entlassen.
„Nein“, antwortete Olaf schuldbewusst. „Ich… ich wusste nicht…“
Hannibal hob die Hand, die nicht das Glas hielt, sondern soeben noch auf der Lehne des Sessels geruht hatte. „Was habe ich dir über das Stottern gesagt?“
Olaf senkte den Blick. „Dass es sich um eine schlechte Angewohnheit handelt, die ich ablegen muss.“
Hannibal nickte. „So ist es. Du wirst es nie zu etwas bringen, wenn du Unarten wie diese beibehältst. Hast du das verstanden?“
„Ja, Vater.“
„Sieh mich an!“
Olaf hob seinen Blick wieder, traf auf Augen, die ihn wider Erwarten eher amüsiert als zornig ansahen.
„Geh jetzt zu deiner Mutter“, sagte Hannibal. „Sie wird sich freuen, dich zu sehen.“
Olaf nickte. „Danke, Vater.“ Die Worte kamen nicht ganz so energisch heraus, wie er es sich gewünscht hätte, doch dieses Mal ermahnte ihn sein Vater nicht. Olaf machte kehrt und stieg die Treppe hinauf.
Es ist alles in Ordnung, sagte er sich. Seine Mutter wusste, dass er da war. Sie erwartete ihn und nichts, was er in diesem Zimmer sähe, käme den Alpträumen gleich, die ihn von Zeit zu Zeit des Nachts aufschrecken ließen.
Sie war noch seine Mutter, und als er sie das letzte Mal gesehen hatte, sah sie aus wie immer, trotz des Dings, das in ihrem Bauch heranwuchs.
Obwohl seine Schritte sich verlangsamten je näher er ihrem Schlafzimmer kam, zwang er sich dazu, nicht inne zu halten, sondern, als er die verschlossene Tür erreicht hatte, so energisch wie möglich dagegen zu klopfen.
„Tritt ein!“ Ihre Stimme klang, wie er sie in Erinnerung hatte, fest und klar und keineswegs kränklich oder geschwächt.
Mit steigendem Mut öffnete er die Tür und folgte ihrer Aufforderung.
„Olaf“, sagte sie und lächelte, so dass er unwillkürlich zurück lächeln musste. „Es ist schön, dass du hier bist.“
„Ich freue mich auch, Mutter“, antwortete er, erinnerte sich an seine Haltung und straffte seine Schultern.
„Steh bequem“, sagte Helena Stadlhauser belustigt und legte das Buch, das sie immer noch in ihrer linken Hand hielt, beiseite. Mit den freigewordenen Fingern tappte sie gegen die mit feiner Seide bezogene Matratze.
„Komm her und lass dich anschauen.“
Gehorsam tat Olaf wie gewünscht und näherte sich ihr, setzte sich nach kurzem Zögern neben seine Mutter auf das Bett. Dabei vermied er es sorgsam, auf ihren überdimensionalen Bauch zu starren.
Doch er konnte die Frage nicht mehr zurückholen, die ihm unbeabsichtigt entschlüpfte: „Geht es dir gut?“
Helena lächelte breiter. „Aber ja, mein Junge. Es geht mir gut.“ Sie betrachtete ihren Bauch, tätschelte diesen liebevoll und schwieg einen Augenblick, bevor sie erneut anhob zu sprechen.
„Weißt du“, sagte sie. „Dieses
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