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Ueber den Horizont hinaus - Band 1

Ueber den Horizont hinaus - Band 1

Titel: Ueber den Horizont hinaus - Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Lenz
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Kind – dein Bruder – seine Ankunft wird nicht bedeuten, dass wir dich weniger lieb haben. Du wirst immer unser Erstgeborener sein, unser ganzer Stolz. Das weißt du doch.“
    Olaf nickte. „Ich weiß, Mutter.“
    Sie seufzte leise. „Das ist gut, denn er wird dich brauchen. Du bist sein großer Bruder, du wirst auf ihn aufpassen müssen.“
    Sie nahm seine Hand, und bevor Olaf diese zurückziehen konnte, hatte sie seine schmale Jungenhand auf ihren Bauch gelegt und hielt sie dort fest.
    „Er bewegt sich“, sagte sie mit einem Zwinkern in den Augen, das Olaf noch nie zuvor an ihr wahrgenommen hatte.
    Olaf versuchte erneut die Hand wegzuziehen, aber ihr Griff blieb eisern, bis er die seltsam weiche Bewegung unter dem Stoff ihres Kleides, unter ihrer Bauchdecke registrierte. Zufrieden ließ sie ihn los und Olaf zog seine Finger zurück. Langsam jedoch, langsamer und beinahe mit einem Widerstreben, das er sich nicht erklären konnte.
    „Tut es weh?“, fragte er mit großen Augen und Helena schüttelte den Kopf und lachte leise. „Nein“, antwortete sie. „Er schwimmt ganz langsam. Ich erinnere mich, dass du mich stärker getreten hast.“
    Auf diese Offenbarung hin schwieg Olaf betroffen, unwillig sich vorzustellen, dass er selbst sich auch einmal in dieser entwürdigenden und mit Sicherheit zutiefst unangenehmen Lage befunden haben sollte.
    „Du verstehst doch, Olaf, dass wir auf dich zählen“, sagte seine Mutter nun, mit einem Mal ernst geworden.
    „Ich weiß, dass der Altersunterschied enorm ist und ihr beide nicht aufwachsen werdet wie normale Brüder.
    Aber die Tatsache bleibt, dass er dich brauchen wird. Ihr seid eine Familie, vom selben Blut und somit für immer füreinander verantwortlich.“
    „Ich verstehe“, nickte Olaf, obwohl er rein gar nichts verstand.
    „Dann kannst du jetzt gehen“, lächelte sie. „Sag deinem Vater noch gute Nacht.“
    Olaf war bereits halb aus der Tür, als sie ihn zurückrief. „Genieße deinen Sommer hier“, meinte sie mit leicht schief gelegtem Kopf. „Die nächste Klasse, in die du kommst, wird sicher nicht einfach.“
    „Nein, Mutter“, nickte er und für einen Moment trafen sich ihre Augen. Beide Paare glichen sich auffallend, auch wenn die Helenas etwas heller wirkten. Doch sie alle waren groß und geschwungen, glänzten in einem dunklen Braun, das in hellem Licht an Kastanie und in der Dunkelheit an bittere Schokolade erinnerte.
    Trotz allem war Olaf froh, als er ihrem Zimmer entronnen war, sich von seinem Vater für die Nacht verabschiedet und in sein Zimmer zurückgezogen hatte.
    Die Erinnerung an das sich so langsam und fremd bewegende Wesen im Bauch seiner Mutter schob er schleunigst beiseite. Am nächsten Tag würde er seine Freunde aus der Grundschule anrufen. Auch wenn ihre Wege sich getrennt hatten, so bedeutete doch ein Wiedersehen eine zumindest kurzfristige Befreiung von der Stille des Hauses.
    *
    Der Morgen brach an und Olaf frühstückte alleine an dem großen Esstisch, so wie er es gewohnt war. Das Hausmädchen – dasselbe wie am Vortag – kicherte, als er sie nach Eiern fragte, doch gab den Wunsch sofort an die Küche weiter. Und als er die Mahlzeit verschlungen hatte, an deren täglichen Verzehr er seit seinem Eintritt ins Internat gewöhnt war, fühlte er sich besser und bereit, aus seinen wohlverdienten Ferien das Beste zu machen.
    Das Beste dauerte genau drei Tage, in denen er seine Mutter überhaupt nicht und seinen Vater nur selten zu Gesicht bekam. Stattdessen genoss er die Freiheit, sich nicht ständig beobachtet zu fühlen und tollte mit den Jungen des Ortes, die ihn nach einigem Zögern wieder akzeptierten, in dem angrenzenden Wäldchen herum.
    Sie spielten Jungenspiele. Spiele, in denen es ums Kämpfen ging, ums Schießen, um den Wettbewerb. Spiele, in denen Olaf gut war.
    Bis sich an einem Abend alles änderte.
    Olaf war länger draußen geblieben, als beabsichtigt. Länger als es ihm erlaubt gewesen war. Er hatte geglaubt, dass es keine große Rolle spielte, dass niemand seine Verspätung bemerkte. Doch gerade diesen Abend suchte sein Vater sich aus, um pünktlich zu Hause aufzutauchen. Fast als hätte er geahnt, dass es in dieser Nacht geschehen sollte.
    Noch bevor Helena auf dem Treppenabsatz auftauchte, eine Hand gegen den überdimensionalen Unterleib gepresst, das Gesicht zu einem mühsamen Lächeln verzogen, hatte Hannibal den Jungen abgefangen, ihn gezwungen sich über die Rückenlehne der Couch zu beugen und die

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