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Ueber den Horizont hinaus - Band 1

Ueber den Horizont hinaus - Band 1

Titel: Ueber den Horizont hinaus - Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Lenz
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aussehen?“, fragte Olaf und betrachtete das faltige, rote Gesicht. Glatte schwarze Haare wuchsen ihm erstaunlich weit in die Stirn hinein, umrahmten Züge in denen Olaf weder Ähnlichkeiten mit seiner Mutter oder auch seinem Vater erkennen konnten. Schon gar nicht mit ihm selbst, ausgenommen der Haarfarbe vielleicht.
    Hannibal sah Olaf nachdenklich an, drehte sich dann jedoch um und begann Tücher und Windeln auf einen Tisch zu legen, über dessen Zweck Olaf sich bislang noch keine Gedanken gemacht hatte.
    „Alle sehen so aus“, brummte Hannibal schließlich. „Jeder von uns. Das ändert sich schnell.“
    Olaf nickte nur wieder, als würde er verstehen und beobachtete die ruhigen Atemzüge, die den kleinen Körper so unverkennbar als lebendig auswiesen. Auf einmal streckte er sich, dehnte das Wesen sich mit einem Laut, der am ehesten einem schwachen Seufzer glich und Olaf beobachtete fasziniert, wie es um die schmalen Lippen zuckte.
    Ein, zweimal blitzte der Anflug eines Lächelns auf. ‚Engelslächeln‘, dachte Olaf und dann war es verschwunden.
    Das Wesen blinzelte und schlug mit einem Mal seine Augen auf. Groß und dunkel waren diese und Olaf kam es vor, als blickte Christian mit ihnen direkt in seine Seele. Er erschauerte leicht, beugte sich näher über seinen Bruder, studierte ihn, so wie dieser ihn zu studieren schien.
    „Er kann dich noch nicht sehen“, warf Hannibal ein. „Es dauert noch, bis er etwas erkennen kann.“
    „Aha.“ Olaf kümmerte sich nicht um die Worte seines Vaters. Er sah in Christians Augen und war sich sicher, dass dieser ihn sah, wusste wer er war.
    „Christian“, flüsterte er und wusste nicht, ob der Grund für seine Vorsicht in der Zartheit des Neugeborenen bestand, oder ob er es nur vermeiden wollte, dass sein Vater ihn verstand.
    Die Tür klappte, doch Olaf kümmerte es nicht, dass er allein gelassen wurde. Im Gegenteil, er war froh darüber, den Familienzuwachs in Ruhe kennenlernen zu können. Er lehnte sich in den Schaukelstuhl zurück und begann damit, leicht zu wippen, sehr leicht nur, als wollte er Christian nicht erschrecken, der seine Augen unverwandt auf ihn gerichtet hielt ohne einen Laut von sich zu geben.
    Eine winzige Hand streckte sich aus den Decken und Olaf staunte darüber, wie klein und rot und dennoch perfekt geformt sie aussah. Jeder einzelne Finger bewegte sich, ballte die Hand zu einer kleinen Faust und ließ wieder los.
    Wie die Zeit verging merkte Olaf genauso wenig, wie er darüber erstaunt war, dass sein Brüderchen so ruhig in seinen Armen blieb. Als fühlte es sich bereits sicher und geborgen.
    Und als sein Vater wiederkam und ihm ein angewärmtes Fläschchen mit Milch reichte, wusste Olaf instinktiv, was von ihm erwartet wurde. Er führte den Sauger an die Lippen des Säuglings und lachte glücklich, als dieser ihn hungrig umschloss und nach kurzem Zögern mit einer Inbrunst zu saugen begann, die Olaf innerlich mit ihm glucksen ließ.
    Die dunklen Augen schlossen sich wieder und nach kürzester Zeit atmete das Baby wieder ruhig und gleichmäßig. Der Sauger entglitt seinem Mund, eine Milchblase bildete sich zwischen den Lippen, füllte sich mit Luft und zerplatzte lautlos.
    Olafs Vater kam wieder in das Zimmer, ohne das Olaf bemerkt hatte, dass er gegangen war.
    „Gut gemacht“, lobte er und nahm ihm das Baby resolut vom Schoß.
    Und Olaf erglühte vor Stolz, kam es doch allzu selten vor, dass seine Leistungen nicht als selbstverständlich genommen wurden. Auch, wenn er nicht wusste, worin in diesem Fall seine Leistung bestand.
    Hannibal legte das Neugeborene gegen seine Schulter und klopfte ihm so energisch auf den Rücken, dass Olaf fürchtete, es würde jeden Moment aufwachen und sich beschweren. Doch nichts geschah und schließlich legte Hannibal das Kind in sein Bett, sah Olaf zu, wie dieser aus dem Schaukelstuhl kletterte und bedeutete ihm, das Zimmer zu verlassen.
    Draußen blieb er einen Moment nachdenklich stehen. „Es ist gut, dass du jetzt hier bist“, sagte er schließlich. „Ihr werdet euch wahrscheinlich nicht sehr oft sehen, auf jeden Fall nicht zusammen aufwachsen. Deshalb begrüße ich es, wenn du die Gelegenheit wahrnimmst, ihn kennen zu lernen.“
    Olaf nickte, fühlte, dass eine Antwort zu geben, nicht notwendig war. Er wusste auch so, dass es ihm nichts ausmachte, dass er jede Gelegenheit wahrnehmen wollte, sich mit diesem fremden und doch so überhaupt nicht fremden Wesen zu verbrüdern.
    *
    Der Reiz des Neuen

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