Ueber den Horizont hinaus - Band 1
zurück, doch ließ seine Tür einen Spalt offen. Nur für den Fall, dass er etwas hören sollte. Nur für den Fall… und er wusste nicht, was für ein Fall dies war.
*
Als Olaf in den nächsten Ferien nach Hause fuhr, fühlte er sich anders. Zum ersten Mal kam es ihm vor, als wartete dort etwas auf ihn. Als wäre es seine Pflicht, sich zu vergewissern, dass während der langen Zeit seiner Abwesenheit nichts geschehen war. Nichts Endgültiges. Nichts von dem, an das zu denken, er sich selbst verweigerte.
Und tatsächlich war Christian gesund und munter. Ein gutes Stück gewachsen, mit Augen, die aufgeweckt und neugierig in die Welt sahen. Und erst jetzt konnte Olaf es vor sich selbst zugeben, dass er ihn vermisst hatte, dass er neugierig gewesen war, die ganze Zeit.
„Hallo Kleiner.“ Olaf kauerte sich neben die Babydecke, auf der Christian strampelte und kitzelte ihn am Bauch, bis er lachte. Ein richtiges, echtes Lachen, ein Babylachen, wie Olaf es sich vorgestellt hatte.
Der Kleine jauchzte und sah ihn an, als erkenne er ihn, als wüsste er, wie schwer es gewesen war, dieses Mal fort zu sein und wie sehr sich Olaf nach ihm gesehnt hatte. Ja, es sah aus, als habe Christian sich ebenso nach ihm gesehnt.
„Uns begrüßt du gar nicht?“
Olaf fuhr herum, um seine Eltern in der Tür stehen zu sehen.
„Ich, ich wusste nicht, dass ihr da seid“, stammelte er und erhob sich. Christian quietschte entrüstet.
„Manchmal sind wir das.“ Hannibal sah ihn ernst an und auch in dem Blick seiner Mutter erkannte Olaf nichts anderes als Tadel. Doch dann verschwand dieser, wurde ersetzt durch ein gekünsteltes Lächeln, das ihm nur allzu vertraut war.
„Es ist auf jeden Fall schön, dich wiederzusehen“, bemerkte sie.
Olaf verfiel in eine steife Haltung, als er seine Eltern nun formell begrüßte. „Ich habe mich sehr auf die Rückkehr gefreut“, setzte er hinzu und war sich bewusst, dass er es diesmal wirklich meinte.
*
Jedes Mal, wenn Olaf nach Hause kam, staunte er von Neuem über die Veränderungen, die mit dem Kleinen vorgingen. Wie schnell er wuchs, wie sehr er ihm selbst zu gleichen begann und wie nahe er bereits daran war, ein richtiger Junge, ein richtiger Bruder zu sein.
Olaf besorgte sich Fotos und nahm sie mit ins Internat. Er versteckte sie in seiner Schublade aus Angst, dass die anderen ihn auslachten, aber konnte nicht umhin, in so manchen, dunklen Stunden eines davon herauszusuchen und die Züge seines Bruders zu studieren, bis er fühlte, wie er zu lächeln begann.
„Ich passe auf dich auf“, flüsterte er ein ums andere Mal. „Dir wird nichts passieren.“ Und obwohl er genau wusste, wie haltlos dieses Versprechen war, so spendete es ihm doch Trost, gab ihm das Gefühl, einen Verbündeten zu besitzen, jemanden, der verstand, der vielleicht eines Tages wirklich verstehen würde.
*
Und Christian wuchs. Er brabbelte in unverständlicher Babysprache. Selten war Olaf so stolz, wie in dem Moment, in dem er das erste Wort hervorstieß, das sich eindeutig wie sein Name anhörte und er umarmte Christian darauf hin und küsste sein feines, dunkles Haar, das wie eine Kappe seinen Kopf bedeckte.
*
Christian krabbelte und Olaf ärgerte ihn, wenn er nicht schnell genug war. Doch nur so lange, bis Christian Anstalten machte, in Tränen auszubrechen.
Doch immer wieder drängte Olaf ihn, sich an Möbelstücken hochzuziehen, das Stehen und schließlich auch das Laufen zu erproben.
Und während der gesamten Zeit fühlte er im Hintergrund die Anwesenheit des Mädchens. Eine der wenigen Angestellten, die ihm doch tatsächlich während jeder Ferien wieder begegnete. Und in diesem Fall legte er keinen Wert darauf, kam es ihm doch vor, als verurteilte ihr stummer Blick jeden Moment, den er mit seinem Bruder verbrachte.
„Ein Junge wie du sollte Besseres zu tun haben“, bemerkte sie einmal zu ihm.
„Er ist mein Bruder und ich sehe ihn ohnehin kaum“, entgegnete er und hob das Kinn, als würde seine Haltung die mangelnde Größe ausgleichen, wenn er zu ihr aufblickte.
Das Mädchen schnaubte nur, schwieg jedoch, nicht zuletzt, weil in diesem Moment seine Mutter eintrat, Olaf zunickte und Christian über das Haar strich.
*
Es blieb seltsam. Nicht seltsamer als zuvor, doch immer noch seltsam. Olaf bemühte sich die Stimmung im Haus zu ignorieren. Er versuchte nicht darüber nachzudenken, dass Christian mit den Schatten aufwuchs, an die auch er sich aus seiner Kindheit erinnerte, sich vage
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