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Ueber den Horizont hinaus - Band 1

Ueber den Horizont hinaus - Band 1

Titel: Ueber den Horizont hinaus - Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Lenz
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verging, spätestens als das regelmäßige, nächtliche Erwachen zur Gewohnheit und später zur Qual wurde.
    Denn egal, was Olaf unternahm – ob er sich die Ohren mit Taschentüchern verstopfte, mit seinem Kissen den Türspalt verdeckte, durch den Christians nächtliches Schreien über den Flur hinweg und durch die dicken, getäfelten Wände hindurch, zu ihm drang – er wachte unwiderruflich jedes Mal auf, wenn das Baby sich zu Wort meldete.
    Die ersten Male war Olaf noch mit beiden Beinen aus dem Bett gesprungen, zutiefst erschrocken, obwohl er sich später vorwarf, dass er doch eigentlich hätte damit rechnen können.
    Zitternd stand er in der Dunkelheit, lauschte auf das ungewohnte Gebrüll, das geradezu unpassende, lautstarke Gejammer. Sein erster Gedanke war, wie der Kleine es wagen konnte, in diesem Haus einen solchen Lärm zu veranstalten. Sein zweiter gründete sich auf dem Schmerz, der in den Tönen mitschwang. Etwas stimmte eindeutig nicht. Also schlich Olaf hinaus auf den Flur und tappte auf bloßen Füßen in Richtung des Geschreis.
    Als er den Quell der Laute erreichte und in das Zimmer hineinblickte durch die Tür, die ein Stückchen aufstand, erblickte Olaf seine Mutter, die mit dem Rücken zu ihm stand. Einige Locken ihres dunkelbraunen Haares hatten sich gelöst und flossen den Rücken hinab, ebenso wie ihr Gewand lang zu Boden floss. Sie beugte sich über das Kind, hielt es in ihren Armen und schaukelte es sacht. Und zum ersten Mal, seit er sich erinnern konnte, hörte Olaf seine Mutter singen. Leise und sanft wog sie Christian und sang ihn in den Schlaf.
    Lautlos zog Olaf sich zurück, fürchtete unbewusst in ein privates Ereignis eingebrochen zu sein, in eine Intimität, die nicht für seine Augen bestimmt war. Gleichzeitig schlug sein Herz höher, lächelte er, ohne zu wissen warum, als der Begriff ‚Familie‘ zum ersten Mal eine Art Sinn ergab.
    *
    Es blieb nicht so, denn die kommenden Male, die er während der Nacht aufschrak und seinen Weg über den Flur zurücklegte, traf er nicht mehr auf seine Mutter. Dann war es das Kindermädchen, das in dem Zimmer nebenan einquartiert wurde und nun mit geübten Griffen den Kleinen versorgte.
    Auch überraschte Olaf sie nicht, es schien eher, als hörte sie ihn kommen, um ihn zurückzuschicken. „Ich wollte nur nachsehen“, murmelte er die ersten Nächte noch, doch ihre unwirschen Antworten sagten noch mehr als ihre ablehnende Körpersprache, dass dieses Problem ihre Sache war und nur ihre alleine.
    Also blieb Olaf in seinem Zimmer und lauschte darauf, dass die Schreie leiser wurden und schließlich verstummten. Doch besser fühlte er sich dabei nicht und an einschlafen war nicht wieder zu denken.
    Erst als das Kindermädchen mit seiner Mutter sprach und diese sich angewöhnte, ihm abends ein mildes Schlafmittel zu verabreichen, gelang es ihm etwas von dem fehlenden Schlaf aufzuholen. Und da er auch tagsüber nicht erwünscht war, kehrte Olaf zurück zu seinem Zeitvertreib mit anderen Jungen seines Alters.
    Doch er war nicht mehr derselbe, er war ein anderer geworden und das Bild des kleinen, hilflosen Wesens in seinem Gitterbettchen begleitete ihn überall hin.
    Manchmal, wenn niemand anderes sich in Christians Zimmer aufhielt, setzte er sich neben das Bettchen und sah dem Baby beim Schlafen zu. Und manchmal erwachte Christian dabei.
    Doch entgegen Olafs Befürchtungen beschwerte er sich nicht, fast als spürte er die Anwesenheit des großen Bruders, die ihm nichts Böses wollte.
    Seine Augen öffneten sich, suchten, bis sie die seinen entdeckt hatten. Zumindest sah es für Olaf so aus. Und er stand auf und betrachtete die kleinen Ärmchen, die sich aus der Decke streckten, die dehnten oder zappelten, während das Baby glucksende Geräusche von sich gab, als wollte er ihm etwas erzählen.
    Über das Gitter gebeugt langte Olaf dann nach unten und berührte die winzigen Handflächen, immer wieder von Neuem erstaunt über die Geschwindigkeit mit der das kleine Wesen seinen Finger packen und umklammern konnte. Olaf zog und Christian quietschte, während er sich mitziehen ließ, blinzelte und schmatzte, als handelte es sich um die beste Unterhaltung der Welt.
    Und Olaf fürchtete den immer näher rückenden Tag der Abreise. Aus einem Grund, den er sich selbst nicht erklären konnte, erfüllte ihn der Gedanke an die Schule auf einmal nicht mehr mit angenehmer Unruhe. Auf einmal spürte er, wie es sich anfühlte, Sorgen mit sich herumzutragen, denen nicht

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