Ueber den Horizont hinaus - Band 1
einmal eine erklärbare Unruhe zugrunde lag.
Er sprach nicht darüber. Stattdessen gewöhnte er sich, an Christians Bettchen zu sitzen und leise, verschwörerisch, beinahe im Flüsterton den Kleinen in die Geheimnisse der Welt, wie er sie kannte einzuweihen.
*
Zwei Nächte vor dem Ende seiner Ferien – Olaf hatte seine Koffer bereits gepackt – wachte er wieder auf.
Er spitzte die Ohren, doch diesmal hörte er trotz aller Anstrengung keinen Laut. Und doch irritierte ihn etwas, beunruhigte Olaf.
Er setzte sich im Bett auf und rieb seine Augen, gähnte herzhaft, doch nur mit dem Ergebnis, dass er sich ausgeschlafener fühlte, als zuvor. Zudem plagte ihn Durst und er hatte versäumt, sich ein Glas Wasser mit auf sein Zimmer zu nehmen.
Olaf seufzte und stand auf, überlegte einen Moment, ob er seinen Durst im Bad stillen sollte, doch entschied dann, dass er munter genug war, sich in der Küche ein Glas Milch zu organisieren. Warum nicht den Luxus ausnutzen, der ihm während der Schulmonate nicht zur Verfügung stand?
Er holte tief Luft, überzeugte sich selbst davon, dass keine Gespenster existierten und tappte die Stufen hinunter. Olaf schlich an der halb geöffneten Tür des Arbeitszimmers vorbei, schüttelte leicht den Kopf, als er den Lichtschein bemerkte, der schwach, doch unverkennbar aus dem Raum drang. Doch erst, als er sich ein weiteres Mal umsah, bemerkte er die stille Gestalt seines Vaters, der mit ihm zugewandten Rücken in einem Sessel saß.
Olaf hielt die Luft an, doch die halbvolle Flasche auf dem Sofatisch und der leichte Geruch nach Zigarren ließen ihn sich entspannen. Olafs Blick fiel auf die Uhr an der Wand. Sie zeigte bereits frühe Morgenstunden und nach dem gleichmäßigen Atem seines Vaters zu urteilen, schlief dieser bereits seit einer Weile im Sitzen.
Auf Zehenspitzen bewegte Olaf sich weiter vorwärts, ausnehmend darauf bedacht, dass er nicht gehört werden konnte.
Einen Moment später kehrte er mit dem gefüllten Glas kalter Milch zurück.
Doch gerade, als er sich anschickte, an der Tür vorbeizugehen, ließ ein wimmernder Laut aus dem oberen Stockwerk Olaf zusammenzucken. Er nahm die zweite Hand zu Hilfe, um das Glas festzuhalten und schrak erneut zusammen, als sich das leise Wimmern in ein lautes verwandelte.
Allerdings erschrak er noch viel mehr, als die ärgerlichen Worte seines Vaters erklangen. „Bringt doch jemand das kleine Monster zum schweigen“, stieß dieser ächzend hervor, drehte sich allerdings nicht um. Und aus einem Grund, den Olaf sich damals noch nicht erklären konnte, erschreckten ihn diese Worte mehr, als ihn jemals zuvor etwas erschreckt hatte.
Er hastete an dem Zimmer vorbei und immer noch so leise wie möglich die Treppe hinauf, ließ die Milch auf einer Vitrine stehen, ohne sich um Untersetzer oder andere Nichtigkeiten zu bemühen und eilte auf Christians Zimmer zu. Das Gefühl, dass er es war, der seinen Bruder vor etwas Unaussprechlichem beschützen musste, erfüllte Olaf, bis er in seinem Zimmer stand.
Christian schrie immer noch, als er eintrat, befand sich jedoch schon in den Armen des Kindermädchens, das versuchte gleichzeitig mit ihm und dem Fläschchen zu hantieren.
„Was willst du“, zischte sie. „Du regst ihn nur auf.“
Olaf schüttelte den Kopf, nahm ihr stumm das Fläschchen ab, füllte es auf und erwärmte es mit mittlerweile geübten Handgriffen.
Das Mädchen seufzte und ließ sich dann mit dem Baby im Arm in den Schaukelstuhl fallen, arrangierte den Kleinen so, dass er trinken konnte und streckte die Hand nach der Flasche aus.
Erst jetzt bemerkte Olaf, dass Christian verstummt war. Ob es der Geruch der Milch war oder die Anwesenheit von ihm und von dem Mädchen, darüber dachte er nicht weiter nach.
Er blieb stehen und betrachtete das Baby, das hungrig nach dem Fläschchen schnappte, sich dann mit einem vernehmlich erleichterten Atemzug zurücksinken ließ und hingebungsvoll trank.
Erst jetzt stellte Olaf fest, dass das Mädchen ihn unverwandt ansah. Ihr blondes Haar wirkte verstrubbelt, der Zopf, den sie sich daraus geflochten hatte, war dabei, sich aufzulösen. Zwischen ihren Augen bildete sich eine Falte und dann schüttelte sie leicht den Kopf.
„Das ist nicht gut“, sagte sie.
„Was?“, flüsterte Olaf, um Christian nicht zu stören.
Doch das Mädchen antwortete nicht und schließlich machte der Junge kehrt und verließ das Kinderzimmer.
Er nahm das Glas von der Vitrine und zog sich in sein eigenes Zimmer
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