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Ueber den Horizont hinaus - Band 1

Ueber den Horizont hinaus - Band 1

Titel: Ueber den Horizont hinaus - Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Lenz
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erinnerte.
    Und er versuchte ihm ein Bruder zu sein. Ein guter Bruder.
    Als Christian in den Kindergarten kam, nahm Olaf ihm das Versprechen ab, zu schreiben, wann immer ihm danach war. Er steckte dem Kleinen ein Bündel bereits adressierter und frankierter Umschläge zu und zeigte ihm, wo er sie einwerfen konnte.
    Die ersten Briefe kamen mit kleinen, bunten Zeichnungen. Meist von ihm und Christian, zwei Kopf-Füßlern auf Wiesen, zwischen Blumen, Sonnen oder Sternen.
    Olaf hob die Bilder gut auf, verwahrte sie sorgfältig dort, wo er auch die Fotos von seinem Bruder aufbewahrte, die ihn nun überallhin begleiteten.
    *
    Und dann – Christian war bereits sechs Jahre alt, kam eine Zeichnung, die Olaf beunruhigte. Er studierte sie wieder und wieder, bis er es nicht mehr aushielt und anrief.
    „Was ist los?“, fragte seine Mutter am Telefon. „Steckst du nicht mitten in den Abschlussprüfungen?“ Ihre Stimme klang ungeduldig und beinahe ärgerlich.
    „Ich komme zurecht“, antwortete er und fragte, ob er Christian sprechen könnte.
    Eine kurze Pause entstand, bevor Helena ihm eine Erwiderung schenkte, wenn auch nicht die erhoffte.
    „Was willst du von ihm“, sagte sie und er vernahm die Vorsicht in ihren Worten.
    Olaf räusperte sich. „Ich will nur wissen, ob es ihm gut geht“, antwortete er dann. „Es ist lange her, dass ich ihn gesprochen habe.“
    „Er ist 12 Jahre jünger als du“, entfuhr es Helena. „Du führst dein eigenes Leben. Was kann es sein, das dich so an ihn fesselt.“
    „Ihr habt verlangt, dass ich auf ihn achte“, schnappte Olaf mit einem Mal ärgerlich. „Was stimmt nicht daran, dass ich ihn jetzt sprechen möchte.“
    Wieder schwieg Helena eine Weile. „Daran stimmt nicht, dass es bereits seine Schlafenszeit ist und ich werde ihn nicht wecken, nur weil du dich langweilst.“
    Olaf bemühte sich, ruhig zu bleiben. „Dann komme ich vorbei, Mutter“, sagte er fest.
    „Du wirst dich hüten“, entgegnete Helena und Olaf hörte wie sie den Hörer ablegte.
    Nach einem Zeitraum, der zu kurz war, als dass Christian wirklich schon hätte im Bett sein können, vernahm er vertraute, schnelle Schritte und dann aufgeregtes Keuchen. „Olaf? Bist du’s wirklich?“
    Ein erleichtertes Grinsen breitete sich auf dem Gesicht des Älteren aus. „Klar bin ich es, Sportsfreund. Ich wollte nur wissen, wie es dir geht.“
    Er lauschte, wartete auf Antwort, während er sich vorstellte, wie Christian auf das kleine Treppchen, das an dem Wandregal befestigt war, kletterte und den Hörer mit beiden Händen umfasste.
    Und wieder einmal staunte er über das Wunder, das diesen kleinen Burschen jedesmal, wenn er ihn sah, in einen völlig anderen Menschen verwandelte.
    Jedes Mal ein wenig größer, ein wenig gewandter, das Kleinkindgebaren immer mehr ablegend, spielte Christian alle Facetten durch vom braven Sonnenschein bis zum trotzigen Tunichtgut.
    Nur eines blieb immer gleich. Die Liebe, die Olaf in ihm spürte und die reine Freude, die er zeigte, wann immer Olaf seine Zeit für ihn opferte.
    „Was ist los?“, fragte er wieder, als keine Antwort zu hören war. Am anderen Ende der Leitung raschelte etwas und Olaf fühlte beinahe den strengen Blick, mit dem Helena den Jungen musterte.
    „Alles in Ordnung“, klang die Antwort gepresst und Olaf senkte seine Stimme, presste den Hörer fester an sein Ohr. „Möchtest du, dass ich komme?“, fragte er.
    „Ja, ja bitte.“ Die Antwort kam schnell, zu schnell, als dass sie ihn hätte beruhigen können.
    „Dann warte auf mich“, sagte er immer noch leise, wiederholte die Worte, die er dem Jungen beibrachte, sobald dieser ihm zuhören konnte. „Und denk dran, du bist stark. Nichts kann dir geschehen.“
    „Ich weiß“, flüsterte Christian.
    *
    Olaf nahm diesmal den Zug. Er stieg zweimal um, verbrachte insgesamt fast drei Stunden auf Bahnhöfen und organisierte für den Rest des Weges ein Taxi. Es fühlte sich gut an, sein eigener Herr zu sein. Olaf wünschte sich nur, er wüsste auch, was er tun sollte, was er tun konnte.
    Es war Morgen, als er den Taxifahrer bezahlte, den Rucksack über seine Schulter schwang und die Stufen zum Haus hinaufstieg.
    Helena öffnete ihm, weniger Empörung, denn Überraschung in ihren Zügen.
    „Olaf – was denkst du dir dabei?“
    „Ich hab die Genehmigung eingeholt“, erwiderte er knapp. „Meine Beurteilung leidet nicht.“
    „Aber wie willst du…?“
    „Olaf!“ Ein Jauchzen aus Richtung der Treppe, lenkte sie

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