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Über den Wassern

Über den Wassern

Titel: Über den Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Kinnbacken waren grau und hingen schlaff herab, und sein Kopf schien sich irgendwie in den dicken Hals und Nacken zurückgefaltet zu haben. Auf der einen Wange fiel Lawler ein nervöser Tic auf. Die Dämonen, von denen er tags zuvor bei der ersten Annäherung an die Küste besessen gewesen sein mochte, waren anscheinend während der vergangenen Nacht zu ihm zurückgekehrt.
    Mit heiserem Ton sagte er: »Ich höre, daß du mich für übergeschnappt hältst.«
    »Spielt es für dich die geringste Rolle, wenn ich das glaube?«
    »Und wärst du vielleicht eine Spur glücklicher, wenn ich dir sag, daß ich fast schon selber anfange zu glauben, du hast recht? Fast. Fast.«
    Lawler suchte nach einer Spur von Ironie in Delagards Worten, nach einem Hauch von Humor oder Spott. Doch da war nichts davon zu spüren. Die Stimme war schwer und heiser und klang brüchig.
    »Da, schau dir die beschissene Gegend an«, krächzte er und fuhr mit den Armen in weiten Schwüngen durch die Luft. »Sieh es dir an, dieses Scheißland, Doc! Es ist eine Wüstenei! Eine Ödnis! Ein Alptraum! Warum nur bin ich bloß je hierher gefahren?« Er zitterte, und die Haut unter seinem Bart war bleich: Er wirkte furchterregend abgehärmt und zerknirscht. Mit leiser krächzender Stimme sagte er: »Bloß ein Irrer kann es soweit kommen lassen. Ich erkenne das ganz überdeutlich. Jetzt. Ich hab es gestern bereits begriffen, als wir in dieser Bucht da ankern wollten, aber ich hab das einfach weggeschoben und getan, als war es nicht so. Das war falsch. Aber immerhin, ich bin stark genug, das einzugestehen. Himmel, Doc, was war bloß in meinem Kopf los, daß ich uns hierher bringen konnte? Das ist kein Platz für uns!« Er wackelte mit dem Kopf. Als er dann weitersprach, war seine Stimme nichts weiter als ein angsterfülltes Krächzen. »Doc! Wir müssen weg von hier! Sofort!«
    Redete der Mann im Ernst? Oder sollte das eine Art grotesker Loyalitätstest sein?
    »Meinst du das im Ernst?« fragte Lawler.
    »Verdammt, ja, das tu ich.«
    Tatsächlich. Er meinte es ernst. Er hatte scheußliche Angst. Er bebte. Er schien sich vor Lawlers Augen aufzulösen. Es war eine bestürzende charakterliche Umpolung, und Delagard wäre der letzte Mensch gewesen, von dem er so etwas erwartet hätte. Er gab sich Mühe, das erst einmal zu verarbeiten.
    Schließlich sagte er: »Und die Versunkene Stadt? Was ist damit?«
    »Du glaubst, es gibt da eine?« fragte Delagard.
    »Nicht eine Sekunde lang. Aber du glaubst es.«
    »Quatsch, tu ich das! Ich hab einfach zuviel Schnaps gesoffen, das ist alles. Wir haben dieses Ding da, dieses Land zu etwa einem Drittel umrundet, schätze ich, und nirgendwo auch nur einen Hinweis gesehen. Man müßte doch mit einer heftigen Küstenströmung rechnen können, wenn es da irgendwo einen Gravitationstrichter gäbe, der die See offenhält. Aber wo, verdammt, ist er?«
    »Das erklärst lieber du mir, Nid. Du hast schließlich geglaubt, daß es hier irgendwo so was gibt.«
    »Nein, das war Jolly, der das geglaubt hat.«
    »Jolly war meschugge. Dem ist das Hirn zu Brei geworden, als er seinen Roundtrip hier um dieses Ding gemacht hat.«
    Delagard nickte düster Zustimmung. Langsam sanken seine Lider über die blutunterlaufenen Augen. Einen Moment lang dachte Lawler, er sei im Stehen eingeschlafen. Dann sagte er mit geschlossenen Augen: »Doc! Ich war die ganze Nacht allein hier draußen. Wollte mir über das alles in meinem Hirn klarwerden. Die Lage sachlich und nach den praktikablen Möglichkeiten bewerten. Das klingt für dich wahrscheinlich komisch, weil du mich ja für irre hältst. Aber ich bin nicht verrückt, Doc. Nicht richtig. Ich mach zwar Sachen, die vielleicht anderen verrückt erscheinen, aber ich selber bin nicht verrückt. Ich bin nur anders als du. Du, du bist nüchtern, du bist vorsichtig, du willst absolut kein Risiko eingehen, du willst bloß immer so weiter mitlaufen und mitmachen und dabeisein. Dagegen ist nichts einzuwenden. Es gibt im Universum solche wie dich und solche wie mich, und wir können uns gegenseitig eigentlich nie richtig verständigen, aber manchmal passiert’s dann eben, daß wir durch die Umstände aufeinanderprallen und dann trotzdem zusammenarbeiten müssen. Doc, ich habe mich danach gesehnt, diesen Ort hier zu erreichen, mehr als ich je irgendwas in meinem Leben gewünscht habe. Für mich war das das Allerwichtigste. Verlang nicht von mir, daß ich dir das erkläre. Du könntest es sowieso nie begreifen. Aber da

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