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Über den Wassern

Über den Wassern

Titel: Über den Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Hieb ins Gesicht, und Struvin packte ihn am Hals und würgte ihn, bis er sich wieder beruhigte. »Bringt ihn auf sein Schiff«, befahl Delagard Cadrell. »Und sorgt dafür, daß er dort bleibt, bis wir ablegen.«
    Am vorletzten und auch am letzten Tag fanden sich Gruppen von Gillies direkt an der Grenzlinie zwischen ihrem Gebiet und der Menschensiedlung ein, standen nur da und beobachteten auf ihre unergründliche Weise, als wollten sie sich vergewissern, ob die Menschen sich auch tatsächlich zum Auszug anschickten. Inzwischen hatten alle Sorvesen eingesehen, daß es keine Rettung gab, daß die Ausweisung nicht zurückgenommen werden würde. Auch die letzten Zweifler, die bisher die Augen verschlossen hatten, mußten nun unter dem Druck dieser starren, unerbittlichen, fischigen Blicke sich der Wahrheit stellen: Sorve war für sie auf alle Zeit verloren. Grayvard sollte ihr neues Zuhause werden. Soviel stand fest.
     KURZ VOR DEM ENDE, wenige Stunden vor dem Aufbruch, stieg Lawler zum entferntesten Punkt der Insel, auf der anderen, der Bucht gegenüberliegenden Seite, wo das hohe Bollwerk direkt an den Ozean grenzte. Es war Mittag, und das Wasser war voller glastender Lichtreflexe.
    Von seinem erhöhten Aussichtspunkt aus schaute Lawler übers weite offene Meer und stellte sich vor, daß er nun darüber hinfahren mußte, weitab von jedem Ufer. Er wollte sich prüfen, herausfinden, ob er sich noch immer fürchtete vor dieser endlosen Wasserwelt, in die er nun sehr, sehr bald hinausziehen würde.
    Nein. Nein, da war nichts mehr. Seine ganze Furcht schien damals, in dieser Nacht der Besäufnis in Delagards Höhle, von ihm gewichen zu sein. Und war nicht zurückgekehrt. Er spähte in die Ferne, und er sah nichts als Meer, und auch das war gut so. Dort war nichts, wovor man sich hätte fürchten müssen. Er würde seine Insel eben mit den Planken eines Schiffs vertauschen, und das war ja im Grunde auch wirklich nichts weiter als eine Miniaturinsel. Also, welches war die schlimmste vorstellbare Möglichkeit? Daß sein Schiff in einem Sturm auf den Grund fahren könnte, wahrscheinlich, oder von der Tidenflutwelle zerschmettert würde und er sterben mußte. Na und? Früher oder später würde er sowieso sterben müssen. Das war nichts Neues. Aber schließlich passierten Schiffsuntergänge ja auch nicht dermaßen häufig. Die Chancen standen nicht schlecht, daß sie sicher nach Grayvard gelangten. Und dort würde er wieder an Land gehen und sein neues Leben beginnen.
    Was er aber weit stärker noch immer fühlte, war nicht Bangnis vor der bevorstehenden Reise, sondern immer wieder eine scharfe, stechende Kümmernis, ein grämlich schmerzliches Verlustgefühl angesichts all dessen, was er hier zurücklassen mußte. Das schmerzliche Gefühl quoll rasch in ihm empor und verschwand ebenso rasch wieder, aber ungestillt.
    Nun aber begannen sich seltsamerweise die Dinge, die er zurücklassen mußte, von ihm zu lösen. Er stand mit dem Rücken zur Siedlung und starrte auf die gewaltige dunkle Weite des Wassers hinaus, und alles schien in dem leichten Wind, der an ihm vorbei aufs Meer hinausstrich, davonzuwehen: Sein furchtbar ehrfurchtgebietender Vater, seine sanfte, unerreichbare Mutter, die fast vergessenen Brüder. Seine ganze Kindheit, die Jugend, das Erwachsensein, die Episode seiner kurzen Ehe, die Jahre als Inselarzt, als der Dr. Lawler seiner Generation... Alles schwand plötzlich dahin. Alles fiel von ihm ab. Er fühlte sich merkwürdig leicht, so als könnte er sich einfach in diesen leichten Wind hinaufschwingen und durch die Luft bis nach Grayvard schweben. Alle Fesseln waren gelöst. In einem Nu, einem kurzen Augenblick, war alles, das ihn hier band, von ihm abgefallen. Alles.

ZWEITER TEIL
Das Meer der Leere
     

1
    DIE ERSTEN VIER Tage der Fahrt waren geruhsam verlaufen, was beinahe verdächtig war. »Richtig gruslig, das ist es«, sagte Gabe Kinverson und wackelte feierlich mit dem Kopf. »Eigentlich müßte es hier draußen, mitten im Nirgendwo, Ärger geben.« Er blickte auf die langsame, gleichmäßige graublaue Dünung hinaus. Der Wind blieb fest. Die Segel waren voll. Die Schiffe blieben dicht beisammen und zogen über die glasige See nach Nordwesten, auf Grayvard zu. Die neue Heimat, das neue Leben; für die achtundsiebzig Reisenden, die Verbannten, die Ausgestoßenen, war dies wie eine zweite Geburt. Aber konnte eine Geburt - sei es die erste oder die zweite - so leicht vonstatten gehen? Und wie lange noch,

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