Über den Wassern
Lawler.
»Jaja, die auch«, erwiderte Martello, leicht verärgert. »Sie bekommen einen eigenen Gesang, ein bißchen später.«
»Gut so«, sagte Lawler. »Sehr stark, die Poesie. Aber natürlich, ich verstehe nicht genug davon. Du schätzt es nicht, wenn sich Gedichtzeilen reimen?«
»Doktor! Der Endreim ist schon seit Hunderten von Jahren aus der Mode!«
»Ach, wirklich? Das habe ich gar nicht gewußt. Mein Vater hat uns manchmal Gedichte vorgesagt, alte Sachen von der ERDE. Die scheinen dort damals aber gern gereimt zu haben. It is an ancien Mariner / And he stop-peth one of three. / ‚By thy long grey beard and glittering eye, / Now where-fore stopp’st thou me?’« { * }
»Was für ein Gedicht ist das?« fragte Martello.
»Es hieß The Rime of the Ancient Mariner. Und es handelt von einer Fahrt übers Meer - einer sehr unseligen Reise. The very deep did rot; O Christ! / That ever this should be! / Yea, slimy things did crawl with legs / Upon the slimy sea.« { ** }
»Stark. Kannst du noch mehr davon auswendig?«
»Nur ein paar verstreute Zeilen«, gestand Lawler.
»Wir sollten uns mal zusammensetzen und über Poesie reden, Doc. Ich hab ja gar nicht gewußt, daß du Gedichte kennst.« Über Martellos sonniges Gesicht flog flüchtig ein Schatten. »Auch mein Vater liebte diese alten Gedichte. Von dem Planeten, auf dem er lebte, bevor er hierherkam, hatte er ein Buch mit Gedichten von der ERDE mitgebracht. Wußtest du das?«
»Nein«,sagte Lawler aufgeregt. »Wo ist es?«
»Fort. Er hatte es dabei, als er und Mutter ertrunken sind.«
»Das hätte ich gern gelesen«, sagte Lawler betrübt.
»Manchmal hab ich Momente, da glaube ich, daß ich dieses Buch genauso schmerzlich vermisse wie meine Eltern«, sagte Martello. Dann setzte er naiv hinzu: »Ist es abscheulich, so was zu sagen, Doktor?«
»Ich glaub nicht. Ich glaube, ich verstehe, was du meinst.« Water, water, every where, dachte er. And all the boards did shrink. »Hör zu, Leo, komm nach deiner Schicht am Morgen sofort zu mir, ja? Dann behandle ich dir den verbrannten Rücken.«
Water, water every where! Nor any drop to drink. { * }
UND NOCH EIN WENIG später stand Lawler wieder an Deck, allein unter dem pulsierenden Schwarz des nächtlichen Himmels in der kühlen, steten Brise aus dem Norden. Es war nach Mitternacht. Delagard, Henders und Sundira hingen in der Takelung und riefen sich ihm unverständliche Worte zu. Das Kreuz stand genau im Zenit über dem Schiff.
Lawler schaute hinauf, zu der säuberlichen Zackenformation, zu den Tausenden unvorstellbar großen explodierenden Wasserstoffkugeln, die da so exakt am Himmel aufgereiht standen... eine Linie in der Richtung, die zweite Linie quer dazu angeordnet. Ihm gingen noch Martellos ungeschliffene Verse im Kopf herum: Nun schossen die Langschiffe hinaus / Ins dunkle Herz der Finsternis... Konnte einer der Sonnensterne in dieser eindrucksvollen Konstellation dort oben die Sonne der ERDE sein? Nein. Nein! Man sagte, daß dieser Stern von Hydros aus nicht sichtbar sei. Nein, die Gestirne, die das Kreuz bildeten, waren andere. Doch irgendwo, tiefer drinnen in der Dunkelheit, verborgen hinter dem gewaltigen Lichtgalgen des Kreuzes, mußte diese eher kleine gelbe Sonne sich befinden, unter deren milden Strahlen die ganze Menschheitssaga begonnen hatte. Goldwelten, schimmernde, riefen / Und unsre Väter folgten dem Ruf. Ja, und unsere Mütter ebenfalls! Diese Sonne der ERDE hatte in wenigen Minuten wilder kosmischer Wut ihr vorheriges Geschenk, das Leben, zunichte gemacht. Hatte sich am Ende gegen das von ihr Geschaffene gewandt und es erbarmungslos mit harter Strahlung ausgetilgt, die in einem Augenblick den Mutterplaneten der Menschheit zu einem Klumpen schwarzer Kohle verbrannt hatte.
Lawler hatte sein ganzes Leben lang von der ERDE geträumt; von den frühen Tagen an, als ihm sein Großvater die ersten Geschichten aus der Welt der Vorfahren erzählt hatte, aber dennoch war sie ihm noch immer rätselhaft geblieben, ein Geheimnis. Und er wußte, dies würde immer so bleiben. Der Planet Hydros lag zu fernab, war zu rückständig, viel zu weit weg von irgendwelchen möglicherweise noch existierenden Zentren der Gelehrsamkeit. Es gab hier niemanden, der ihn hätte lehren können, wie es auf der ERDE einmal gewesen war. Er hatte wirklich kaum eine Ahnung davon, von der Musik, der Literatur, den bildenden Künsten, der Geschichte. Ihn hatten nur sporadische Tröpfchen von Daten erreicht, und da
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