Über den Wassern
vorher mal ‘ne kleine Seereise mit mir machen, oder was spricht dagegen?«
»Nein«, sagte Valben. »Nein, das kann ich nicht.«
Und dann verstand er, warum der Großvater ihm den kleinen Tonscherben von der ERDE geschenkt hatte und nicht seinem älteren Bruder Coirey.
Sein Bruder war nie wieder nach Sorve zurückgekehrt.
DANN WAR ER SIEBZEHN und steckte ganz tief in seinem Studium der Heilkunst.
»Es wird höchste Zeit, daß du mal mit mir zusammen eine Autopsie durchführst, Valben«, sagte sein Vater. »Bislang war ja alles reine Theorie bei dir. Aber früher oder später mußt du den Sack mal aufmachen und sehen, was drinsteckt.«
»Sollten wir nicht besser damit warten, bis ich mit meiner Anatomie durch bin?« sagte Valben. »Dann hätte ich ein klareres Bild von dem, was ich sehe.«
»Aber das ist der beste Anatomie-Unterricht, den es gibt«, sagte sein Vater.
Und dann zog er ihn mit nach drinnen in das Operationszimmer. Auf dem Tisch lag jemand unter einer leichten Decke oder einem Wasserlattich-Tuch. Er zog das Tuch weg. Valben sah eine alte Frau mit grauen Haaren und schlaffen Brüsten, die flach zur Seite hingen, und einen Moment danach wurde ihm klar, daß er die Frau ja kannte, daß er da Bamber Cadrells Mutter anschaute, Samara, die Ehefrau von Marinus. Und natürlich mußte er sie kennen: Es gab auf der Insel nur sechzig Menschen, also wie hätte da einer von ihnen ein Fremder sein können? Aber trotzdem - die Frau von Marinus, die Mutter von Bamber - nackt hier vor ihm auf dem Operationstisch...
»Sie ist heute früh gestorben, sehr plötzlich, fiel einfach in ihrem Vaargh um. Marinus hat sie hergebracht. Höchstwahrscheinlich das Herz, aber ich wollte mich vergewissern, und auch du mußt so was irgendwann mal zum erstenmal sehen.« Sein Vater nahm den Kasten mit den chirurgischen Instrumenten. Dann sagte er leise: »Mir hat meine erste Autopsie auch nicht gefallen. Aber so etwas ist nun einmal nötig, Valben. Du mußt wissen, wie eine Leber aussieht, eine Milz, die Lungen, ein Herz, und du kannst das nicht richtig begreifen, nur indem du darüber nachliest. Du mußt den Unterschied erkennen lernen zwischen gesunden Organen und beschädigten. Außerdem - wir bekommen hier nicht allzu viele Leichen, an denen wir arbeiten könnten. Diese Gelegenheit hier - ich darf sie dich einfach nicht verpassen lassen.«
Er wählte ein Skalpell, demonstrierte Valben, wie man es richtig in die Hand nahm, und machte den ersten Schnitt. Dann legte er nach und nach die Geheimnisse bloß, die der tote Körper von Samara Cadrell noch enthielt.
Anfangs war es schlimm, sehr schlimm.
Dann stellte er fest, daß er es ertragen konnte, daß er sich an die Scheußlichkeit gewöhnte, Teil zu sein bei einer derartigen blutigen Entweihung des Heiligtums eines Körpers.
Und nach einiger Zeit faszinierte es ihn sogar, nachdem es ihm gelungen war zu verdrängen, daß das hier vor ihm einmal eine Frau gewesen war, die er Zeit seines Lebens gekannt hatte, und er sah nur noch ein Gefüge innerer Körperorgane von unterschiedlicher Färbung, Textur und Gestalt.
Doch in dieser Nacht, nachdem er sein Studienpensum erfüllt hatte und allein mit Boda Thalheim hinter der Wasserzisterne war und als seine Hände über ihren flachen seidenglatten Bauch glitten, mußte er unablässig daran denken, daß unter dieser bezaubernden festgespannten Trommel weicher Haut gleichfalls nur ein Gefüge innerer Organe von unterschiedlicher Färbung, Textur und Gestalt ruhten, so ziemlich jenen ähnlich, die er am Nachmittag gesehen hatte, diese schimmernden Darmwindungen und all das übrige, und daß diese festen runden Brüste komplizierte Drüsen waren, die sich nur wenig von denen in den schlaffen Brüsten Samara Cadrells unterschieden, die ihm sein Vater vor ein paar Stunden mit geschickten Skalpellschnitten bloßgelegt hatte. Und er zog seine Hände von dem glatten Leib Bodas zurück, als hätte der sich unter seiner Zärtlichkeit in den schlaffen Körper Samaras verwandelt.
»Was ist denn, Val?«
»Ach, nichts. Nichts.«
»Willst du denn nicht?«
»Aber sicher will ich. Aber... ich weiß nicht...«
»Komm, laß mich dir helfen.«
»Ja. Oh, Boda! Oh, ja! Ja!«
Und wenig später klappte alles wunderbar. Aber er fragte sich trotzdem, ob er jemals wieder bei einem Mädchen liegen würde, ohne daß ihn die lebhaften Bilder ihres Pancreas, ihrer Nieren und Eileiter ungewollt und unerwünscht überfallen würden, und es kam ihm der Gedanke,
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