Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe
nachwies, indem sie bei einzelnen Gedichten Wort für Wort und alle Klangfolgen so mikroskopisch genau analysierte wie Archäologen eine Steintafel. »Die Aussicht« etwa, das Gedicht aus Hölderlins letzten Lebenstagen Anfang Juni 1843, folgt bis in den glanzevozierenden Stamm der Zeitwörter der Poetik vom Werden im Vergehen .
Daß die Natur ergänzt das Bild der Zeiten,
Daß die verweilt, sie schnell vorübergleiten,
Ist aus Vollkommenheit, des Himmels Höhe glänzet
Den Menschen dann, wie Bäume Blüt umkränzet. 56
Und über der Wüste des Lebens leuchten Verse, wie sie ein kluges Kind gedichtet haben könnte, – Ich bin ein Ich –, das über die Weltsicht des Lebensmüden, aller Lebensmüden verfügt:
Das Angenehme dieser Welt habe ich genossen,
Die Jugendstunden sind, wie lang! wie lang! Verflossen,
April und Mai und Junius sind ferne
Ich bin nichts mehr; ich lebe nicht mehr gerne! 57
Ich bin ich, staunt das Kind. Ich bin nichts, darin fanden Jean Paul und Hölderlin Frieden als Dichter. Sie sind Gott, stürzt der Poetologe zu Boden, der gleichwie seinen eigenen Roman schreiben muß.
[Theodor W. Adorno:] So sehr alle Kunst heute ein schlechtes Gewissen hat und haben muß, wofern sie sich nicht dumm machen will, so falsch wäre doch ihre Abschaffung in einer Welt, in der immer noch das herrscht, was als seines Korrektivs der Welt bedarf: der Widerspruch zwischen dem was ist und dem Wahren, zwischen der Einrichtung des Lebens und der Menschheit. Die Kraft des künstlerischen Widerstandes wiederzugewinnen in einer Zeit aber vermag nur, wer auch davor nicht zurückschrickt, daß das objektiv, schließlich auch gesellschaftlich Geforderte zuzeiten in hoffnungsloser Vereinzelung aufbewahrt ist. Erst wer bereit wäre, es ganz allein, ohne Stütze bei irgendwelchen ihm vorgegaukelten Notwendigkeiten und Gesetzen, zu vollbringen, dem wird vielleicht mehr gewährt als die Spiegelung des hilflos Einsamen. 58
Ich danke der Goethe-Universität und der Vereinigung ihrer Freunde und Förderer sowie dem Suhrkamp Verlag für die Ehre, im Sommersemester 2010 die Frankfurter Poetikvorlesung ...
[Fremder betritt Hörsaal durch Vordereingang]
...halten zu dürfen. Ich danke Professor Ulrich Wyss und Christian Buhr vom Institut für deutsche Literatur für die Gastfreundschaft und vorzügliche Organisation. Ich danke Alexander Rick und Manfred Simon für die Technik mitsamt deren poetologischer Willkür. Ich danke Martin Rentzsch und Isaak Dentler, die Jean Paul und Hölderlin eine so berückende Gegenwart verliehen. Ich danke dem Schauspiel Frankfurt und hier besonders Oliver Reese und Andreas Erdmann für die spontane und selbstlose Kooperation. Ich .... was ist denn?
[Fremder:] Hat hier jemand ein Taxi bestellt?
Ich danke Guy Helminger, Ste ...
[Isaak Dentler eilt mit dem Taxifahrer zur Tür hinaus]
Stefan Otteni, Carl Hegemann, Michael Krüger und Katajun Amirpur, daß sie die Vorlesungen, die während der Woche entstanden, an den Wochenenden eilig lasen und ihre vielen Verbesserungen rechtzeitig durchgaben. Und ich danke am allermeisten Ihnen, meine sehr verehrten Hörer und Hörerinnen, für Ihre Aufmerksamkeit über all die Wochen hinweg und würde mich freuen, Sie morgen abend im Literaturhaus wiederzusehen, wenn ich, so Gott will, aus dem Roman, den ich schreibe, lesen und, so Sie wollen, mit Ihnen ins Gespräch kommen werde.
Nachwort von Ulrich Wyss
In Frankfurt gibt es die Adorno-Ampel, die Fußgängern das Überqueren der vielspurigen Straße zwischen der Universität und dem Institut für Sozialforschung an der Senckenberganlage ohne Gefahr für Leib und Leben ermöglicht. Theodor W. Adorno hatte sie schon vor Jahrzehnten gefordert, eingerichtet wurde sie 1987, fast zwanzig Jahre nach seinem Tod. Auch einen Adornoplatz samt avantgardistischem Denkmal – es zeigt, seit seinem hundertstem Geburtstag, in einem gläsernen Schrein des Denkers Schreibtisch – verzeichnet der Stadtplan. Aber »das Pult, das authentische Pult von Theodor W. Adorno«, an das Navid Kermani am 11. Mai 2010 zu treten hatte, als er seine Poetikvorlesung begann? Von 1959 bis 2009, also fünfzig Jahre lang, hatte der Poetikdozent im Hörsaal VI auf dem Campus in Bockenheim zu amtieren, einem zwar geräumigen, aber fensterlosen Raum. Man kennt ihn von den Photos, die das wilde Universitätsleben um 1968 dokumentieren, mit Teach ins und überfüllten Vollversammlungen. Hier
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