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Ueber Deutschland

Titel: Ueber Deutschland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Germaine de Staël
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Wahrheit jedem Vortheil zu Gunsten zu beugen, und die heiligen Verbindlichkeiten der kalten Berechnung aufzuopfern. Ihre Mängel sowohl, als ihre Eigenschaften, unterwerfen diese Nation der ehrenvollen Notwendigkeit, gerecht zu seyn.
    Der Machttrieb zur Arbeit und zum Nachdenken ist ebenfalls ein Unterscheidungszeichen im Character der Deutschen. Die Nation ist von Natur literarisch und philosophisch; nur daß der Unterschied der Klassen, welche in Deutschland hervorstechender als irgendwo ist, weil die Nation hierin die Schatzungen nicht versüßt, in mancher Hinsicht dem, was man eigentlich unter Geist (Esprit) [So oft Geist gesperrt (hier:  fett) seyn wird, soll es das französische Wort esprit, im französischen Sinn, bedeuten.] versteht, in den Weg tritt. Der Adel hat zu wenig Ideen, die Gelehrten zu wenig Kenntniß der Geschäfte. Der Geist ist ein Gemisch von der Kenntniß der Dinge und der Menschen; und die Gesellschaft, wo man ohne Zweck, und dabei doch mit Theilnahme handelt, ist gerade das, was die am meisten entgegenstehenden Fähigkeiten am besten entwickelt. Was die Deutschen characterisirt, ist mehr die Einbildungskraft als der Geist . J.P. Richter, einer ihrer ausgezeichnetsten Schriftsteller, sagt irgendwo: „Das Gebiet des Meeres gehört den Engländern; das Gebiet der Erde den Franzosen; das Gebiet der Luft den Deutschen.“ Und in der That thäte es Noth, in Deutschland, Mittelpunct und Gränzen, jener hervorstechenden Denkkraft anzuweisen, die sich in den leeren Raum versteigt und verliert, in die Tiefe eindringt und verschwindet, vor gar zu großer Unparteilichkeit zu Nichts, vor gar zu feiner Analyse zum Chaos wird, mit einem Wort, der es an gewissen Fehlern mangelt, die ihrer Vollkommenheit zum Aussenwerk dienen könnten.
    Man hat viel Mühe, wenn man so eben aus Frankreich kam, sich an die Langsamkeit, an den Ruhestand des deutschen Volks zu gewöhnen; es hat nie Eile, findet allenthalben Hindernisse. Das Wort unmöglich hört man hundertmal in Deutschland aussprechen, gegen einmal in Frankreich. Muß gehandelt werden, so weiß der Deutsche nicht, was es heißt, den Hindernissen entgegen streben; und seine Achtung vor der Gewalt rührt mehr davon, daß sie in seinen Augen dem Schicksale gleicht, als von irgend einem eigennützigen Grunde her.
    Der gemeine Mann hat in Deutschland eine ziemlich rauhe Aussenseite, zumal wenn man seiner gewöhnlichen Art zu seyn in den Weg tritt; dies hat zur natürlichen Folge, daß er länger als der Adel jene heilige Antipathie gegen die Sitten, Gebräuche und Sprachen des Auslandes beibehalten möchte, welche in allen Ländern das Nationalband schließt. Bietet man ihm Geld an, so bringt dies in seiner Handlungsweise keine Veränderung hervor; die Furcht führt ihn nicht von seinem Wege ab; er hat, mit einem Worte, jene Beharrlichkeit in allen Dingen, welche ein herrlicher Vorschritt zur Moralität ist; denn der Mensch, den die Furcht, und noch mehr die Hoffnung, in beständiger Bewegung erhält, geht leicht von einer Meinung zur andern über, wenn es sein Vortheil befiehlt.
    Sobald man sich nur etwas über die letzte Volksklasse in Deutschland erhoben hat, bemerkt man bald das innere Leben, die Seelenpoesie, die den Deutschen bezeichnet. Die Bewohner der Städte und Dörfer, Soldaten und Landleute, verstehen fast alle Musik. Es ist mir sehr oft begegnet, in kleine vom Tabaksdampf durchräucherte Hütten zu treten, und nicht allein die Hausfrau, sondern auch ihren Mann, auf dem Klavier phantasiren zu hören, wie man in Italien improvisirt. Allenthalben ist die Einrichtung getroffen, daß an Markttagen auf dem Altan des Rathhauses mitten auf dem Platze Spielleute mit blasenden Instrumenten sich versammeln; so daß die Bauern der benachbarten Dörfer ihren freudigen Antheil an der ersten aller Künste nehmen können. Sonntags singen Chorschüler auf den Straßen geistliche Lieder. Wie man erzählt, war Luther, in seiner Jugend, ein solcher Chorknabe. Ich befand mich einst zu Eisenach, einem Städtchen im Herzogthum Sachsen-Weimar, an einem überaus kalten Wintertage; es lag auf den Straßen tiefer Schnee. Ich sah einen langen Zug von jungen Leuten in schwarzen Mänteln durch die Stadt ziehen, und hörte sie mit lauter Stimme Lieder zum Lobe Gottes anstimmen. Außer ihnen befand sich Niemand auf der Straße, so streng war die Kälte; und diese Stimmen, beinahe so harmonisch wie die südlichen, rührten um desto mehr, da sie mitten aus der erstarrten Natur

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