Ueber Deutschland
Lear, schlafend auf die Bühne gebracht ward, soll dieser Schlaf des Unglückes und des Alters schon Thränen erpreßt haben, und noch war er nicht erwacht, noch hatten nicht seine Klagen seine Schmerzen kund gegeben. Als er aber die Leiche Cordelias, seiner jungen Tochter, die ermordet worden, weil sie ihn nicht verlassen wollte, in seinen Armen trug, nichts soll herrlicher gewesen seyn, als die Kraft, die ihm die Verzweiflung gab. Ein leichter Zweifel hielt ihn noch empor. Er versuchte, ob Cordelia noch athme. – Er, der Greis, konnte sich nicht überzeugen, daß ein so junges Leben dahin sey, zerreißend wirkte das Bild des leidenschaftlichen Schmerzes in einem halb erstorbenen Alter. Was man mit Recht den deutschen Schauspielern allgemein vorwerfen kann, ist, daß sie die in ihrem Lande so sehr verbreitete Kenntniß der bildenden Künste in der Ausübung ihrer eigenen Kunst selten darthun. Sie sind in ihren Attitüden nichts weniger als schön, sie erscheinen oft in ihrer übertriebenen Einfachheit linkisch, und selten kommen sie den französischen Schauspielern gleich in Hinsicht auf Adel und Zierlichkeit des Ganges und der Bewegungen. Doch haben seit ewiger Zeit die deutschen. Schauspielerinnen angefangen, die Kunst der Attituden zu studiren, und sich in jener Anmuth zu vervollkommnen, die auf der Bühne so nothwendig ist.
In Deutschland wird nur am Schlusse eines Aktes Beifall geklatscht, und sehr selten unterbricht man einen Schauspieler, um ihm die Bewunderung die er einflößt, zu bezeugen. Die Deutschen halten es für eine Art Barbarei, durch laute tumultuarische Aeußerungen die Rührung zu stören, die in der Stille zu hegen ihnen lieb ist. Aber es ist für den Schauspieler eine Schwierigkeit mehr. Denn kräftig fürwahr muß die Kunst seyn, die der Ermunterung des Zuschauers entbehren kann. In dieser Kunst, die ganz Gefühl ist, zuckt allmählig aus der versammelten Menge ein begeisternder elektrischer Funken, für den es keinen Ersatz giebt. Die große Gewohnheit des Theaters kann bewirken, daß, bei wiederholter Vorstellung eines Stücks, ein guter Schauspieler ohne neuen Antrieb, schon betretene Spuren wiederfinde, und dieselben Mittel wieder gebrauche, aber die erste Begeisterung hat er fast immer vom Parterre erhalten. Ein auffallender Gegensatz verdient bemerkt zu werden. In den schönen Künsten, deren Schöpfungen in der Einsamkeit und durch Nachdenken reifen, weicht man von aller Natur ab, sobald man auf das Publikum Rücksicht nimmt, und nur die Eigenliebe denkt daran, aber in den extemporirten schönen Künsten, in der dramatischen Kunst besonders, wirkt der rauschende Beifall auf die Seele wie Kriegsmusik; dieser berauschende Lärm beschleuniget das Blut in den Adern, und nicht die frostige Eitelkeit ist es, die er befriedigt.
Tritt in Frankreich ein Mann von Genie auf, in welcher Laufbahn es auch sei, so gelangt er fast immer darinnen zu einem noch unerreichten Punkt der Vollendung; denn er muß mit der Kühnheit, die die Schranken der Gewöhnlichkeit durchbricht, den Takt des guten Geschmacks verbinden, von dem es so wichtig ist, ihn zu bewahren, wo die Eigenthümlichkeit nicht darunter leidet. So scheint es mir, kann Talma als ein Muster von Kühnheit und Maaß, von Natur und Würde, aufgestellt werden. Er besitzt aller Künste Geheimnisse. Seine Attituden erinnern an die schönen Statuen des Alterthums, sein Gewand, woran er nicht denkt, fällt bei jeder seiner Bewegungen in so kunstreiche Falten, als hätte er sie mit langem Bedacht gewählt. Der Ausdruck seiner Züge und seines Blickes müssen das Studium aller Mahler seyn. Er tritt zuweilen mit halb offenen Augen auf, und plötzlich läßt die Empfindung sie mit einem Lichte strahlen, das das ganze Haus zu erfüllen scheint.
Hebt er zu sprechen an, so erschüttert der Klang seiner Stimme noch bevor die Worte die er ausspricht, in die Seele gedrungen; Wo sich zufällig in den Tragödien beschreibende Verse befinden, läßt er ihre Schönheit fühlen, als rezitirte Pindar selbst seine Gesänge. Andere brauchen Zeit, um Rührung hervorzubringen, und sie haben Recht, sie sich zu nehmen, aber in der Stimme dieses Mannes liegt, ich weiß nicht welch ein Zauber, der beim ersten Laut alle Sympathie des Herzens erweckt. Alle Gewalt der Tonkunst, der Malerei, der Bildhauerei und der Dichtkunst, und darüber noch die ganze Sprache der Seele, das sind seine Mittel, um in uns die ganze Macht erhabener Leidenschaften und des Schreckens
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