Ueber Deutschland
Wahrhaftigkeit ist ein Beispiel davon. Mit Recht betrachtet er sie als die Grundlage der ganzen Moral. Als der Sohn Gottes sich den Logos oder das Wort nannte: so wollte er vielleicht auch in der Sprache die bewundernswürdige Fähigkeit, das Gedachte zu offenbaren, ehren. Kant hat die Achtung für die Wahrheit so weit getrieben, daß er keinen Verrath an derselben gestatten wollte, selbst dann nicht, wenn ein Bösewicht nach dem Aufenthalte unseres von ihm verfolgten Freundes in unserem Hause fragt. Er behauptet, man müsse sich unter keinerlei Umständen erlauben, was nicht als allgemeines Gesetz aufgestellt werden könne. Aber er vergißt bei dieser Gelegenheit, daß man es zu einem allgemeinen Gesetze erheben könnte, die Wahrheit nur einer anderen Tugend aufzuopfern; denn sobald der persönliche Vortheil aus dem Spiele ist: so sind die Sophismen nicht mehr zu fürchten, und das Gewissen spricht über alles mit Billigkeit.
Kants Theorie in der Moral ist streng, und bisweilen trocken, weil sie die Empfindsamkeit ausschließt. Er betrachtet dieselbe als einen Reflex der Sinnenwirkung, und als nothwendig zu den Leidenschaften führend, in welchen immer Selbstheit ist; eben deswegen verwirft er diese Empfindsamkeit als Führer, und stellt die Moral unter die Obhut unveränderlicher Principien. Nichts kann strenger seyn, als diese Lehre; aber dies ist eine Strenge, welche selbst dann rührt, wenn die Bewegungen des Herzens ihr verdächtig sind, und sie alle ohne Ausnahme zu verbannen sucht: wie strenge auch ein Moralist seyn möge, sobald er sich an das Gewissen wendet, kann er immer darauf rechnen, uns zu rühren. Wer zu dem Menschen sagt: „Finde alles in dir selbst," regt immer im Gemüthe etwas Großes auf, das mit der Empfindsamkeit selbst, deren Aufopferung er verlangt, in Verbindung steht. Indem man Kants Philosophie studirt, müssen Gefühl und Empfindsamkeit sehr wohl unterschieden werden; das erstere läßt er als einen Richter über philosophische Wahrheiten zu, die letztere betrachtet er als etwas, das dem Gewissen unterthan seyn müsse. Gefühl und Gewissen werden in seinen Schriften oft als Synonyme gebraucht; aber die Empfindsamkeit nähert sich der Sphäre der Rührungen, und folglich der Leidenschaften, die daraus entstehen.
Man wird nicht müde, diejenigen Schriften Kants zu bewundern, in welchen das oberste Pflichtgesetz geheiligt ist. Welche ächte Wärme, welche seelenvolle Beredsamkeit über einen Gegenstand, wo es gewöhnlich nur auf Beschränkung und Unterdrückung ankommt! Man fühlt sich durchdrungen von der tiefsten Hochachtung für die Strenge eines philosophischen Greises, welcher der unsichtbaren Macht der Tugend unterthan ist, einer Tugend, deren Reich das Gewissen ist, die keine andere Waffe kennt, als die Reue, und keine andere Schätze zu vertheilen hat, als die innern Genüsse des Gemüths; Genüsse, zu welchen man nicht einmal durch die Hoffnung antreiben kann, weil man sie erst dann begreift, wenn man sie empfunden hat.
Unter den deutschen Philosophen haben Männer von nicht geringerer Tugendliebe als Kant, zugleich aber Solche, die sich vermöge ihrer Neigungen der Religion mehr näherten, dem religiösen Gefühl den Ursprung des Sittengesetzes zugeschrieben. Dies Gefühl kann nicht zur Natur derjenigen gehören, die zur Leidenschaft werden können. Seneca hat die Ruhe und die Tiefe desselben geschildert, als er sagte: ,,Gott wohnt in der Brust des tugendhaften Mannes; zwar weiß ich nicht, welch ein Gott, aber es wohnt ein Gott darin."
Kant hat behauptet, es störe die uneigennützige Reinheit der Moral, wenn man den Handlungen die Aussicht auf ein künftiges Leben zum Endzweck gebe. Mehrere deutsche Schriftsteller haben ihn in dieser Hinsicht vollkommen widerlegt; und in Wahrheit, die himmlische Unsterblichkeit hat nichts gemein mit den Strafen und Belohnungen, welche man auf dieser Erde begreift; das Gefühl, welches uns zur Unsterblichkeit hinleitet, ist eben so uneigennützig, als das, wodurch wir bewogen werden, unser Glück in der Aufopferung für Anderer Glück zu finden. Denn der erste Genuß der religiösen Glückseligkeit ist die Verleugnung unserer selbst; sie entfernt also nothwendig jede Art von Selbstheit.
Was man auch thun möge, man muß darauf zurückkommen, daß man anerkennt, die Religion sey das Fundament der Moral; nur der fühlbare und wirkliche Gegenstand in unserm Innern kann unsere Blicke von äußerlichen Gegenständen abwenden. Wenn das Mitleid
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