Ueber Deutschland
anzufangen? Der Tod, sagen die Ungläubigen, muß von Allem befreien. Aber wissen sie denn, was der Tod ist? Wissen sie, ob der Tod das Nichts ist? Und in welches Labyrinth von Schrecknissen kann uns nicht der Verstand ohne Führer hinzerren?
Wenn ein rechtschaffener Mann — und die Umstände eines leidenschaftlichen Lebens können leicht ein solches Unglück herbeiführen — wenn, sag' ich, ein rechtschaffener Mann einem unschuldigen Wesen ein Uebel zugefügt hätte, das sich mit keinem Ersatz verträgt — wie wollte er sich, ohne den Beistand der religiösen Sühne, jemals darüber trösten? Wenn das Schlachtopfer da im Sarge liegt, an wen soll er sich wenden, wenn es keinen Verkehr mit demselben giebt, wenn Gott selbst den Todten nicht die Seufzer der Lebenden verständlich macht, wenn der erhabene Vermittler der Menschen nicht zum Schmerze sagt: „es ist genug;" — zur Reue:— ,,du hast Verzeihung gefunden?" — Man glaubt, der Hauptvortheil der Religion sey, Gewissensbisse zu wecken: allein sie dient eben sowohl zu Beruhigung derselben. Es giebt Gemüther, in welchen die Vergangenheit vorherrscht; Gemüther, welche die Reue wie ein lebendiger Tod verzehrt; Gemüther, an welche sich die Erinnerung wie ein zerfleischender Geier klammert. Für solche ist die Religion eine Erleichterung der Gewissensbisse, die sie empfinden. Eine Idee, welche immer dieselbe bleibt und doch tausend verschiedene Gestalten annimmt, ermüdet zugleich durch ihre Lebendigkeit und ihre Eintönigkeit. Die schönen Künste, welche die Macht der Einbildungskraft verdoppeln, vermehren mit ihr die Lebhaftigkeit des Schmerzes. Ist das Gemüth nicht mehr in Harmonie mit sich selbst, so wird selbst die Natur lästig: die Ruhe, die man so sanft fand, reizt, wie die Gleichgültigkeit; die Wunder des Universums verdunkeln sich vor unsern Blicken und mitten im Sonnenglanz wird alles zu Erscheinung. Die Nacht beunruhigt, als ob die Dunkelheit irgend ein Geheimniß unser Leiden verberge, und die strahlende Sonne scheint dem Kummer unsers Herzeus zu spotten. Wo so vielen Leiden entfliehen? Etwa im Tode? Aber die Angst des Unglücks macht es zweifelhaft, ob Ruhe im Grabe sey, und die Verzweiflung ist für Atheisten selbst eine düstere Offenbarung der Ewigkeit der Strafen. Was würden wir dann thun — o mein Gott, was würden wir thun, wenn wir uns nicht in deinen Vaterschooß werfen könnten? Der, welcher Gott zuerst Vater nannte, begriff weit mehr von dem menschlichen Herzen, als die tiefsten Denker des Jahrhunderts.
Es ist nicht wahr, daß die Religion den Geist beschränke; eben so wenig ist es wahr, daß die Strenge religiöser Grundsätze zu fürchten sey. Nur Eine Strenge kenne ich, die für empfindsame Seelen furchtbar ist: die der Weltmenschen. Sie sind es, die nichts begreifen, nichts entschuldigen von dem, was unwillkührlich ist. Sie haben sich ein menschliches Herz nach ihrer Fantasie gemacht, um recht bequem darüber zu urtheilen. Ihnen könnte man wiederholen, was den Herrn von Port-Royal gesagt wurde, die übrigens viel Bewunderung verdienten: „Es wird euch leicht, den Menschen zu begreifen, den ihr geschaffen habt, aber den, der ist, kennet ihr nicht."
Die meisten Weltmenschen sind gewohnt über alle unglückliche Lagen des Lebens gewisse Dilemmata zu machen, um sich so schnell als möglich von dem Mitgefühle los zu sagen, das jene von ihnen fordern. „Nur zwei Partheien lassen sich ergreifen — sagen sie —; man muß entweder ganz das Eine oder ganz das Andere seyn, man muß ertragen, was man nicht verhindern kann, man muß sich trösten über das, was unwiederruflich ist." Oder auch: „Wer den Zweck will, will auch die Mittel; man muß alles thun, um das zu erhalten, was man nicht entbehren kann" u.s.w.; und tausend andere Axiome dieser Art, welche die Gestalt der Sprichwörter angenommen haben, und wirklich der Codex der gemeinen Weisheit sind. Aber welches Verhältnis giebt es denn zwischen diesen Axiomen und den Herzensqualen? Dies alles ist gut für die gemeinen Angelegenheiten des Lebens; aber wie soll man dergleichen Rath auf moralische Leiden anwenden? Sie sind verschieden, je nach den Individuen, und zusammengesetzt aus tausend Umständen, die Jedem unbekannt sind, außer unserem vertrautesten Freunde, wenn es einen giebt, der sich mit uns identifiziren kann. Für Den, der mit Feinheit beobachtet ist jeder Charakter beinahe eine neue Welt, und ich kenne in der Wissenschaft des menschlichen Herzens keine
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