Ueber Deutschland
immer zum Glück: so würde es keinen freien Willen mehr geben; denn die ihn bestimmenden Beweggründe würden allzu mächtig seyn.
Die dogmatische Religion ist ein Gebot; die mystische Religion stützt sich auf die innere Erfahrung unseres Herzens; das Predigen muß nothwendigen Aufschluß geben über die Richtung, welcher die Diener des Evangeliums in dieser Hinsicht folgen, und es wäre vielleicht zu wünschen, daß in ihren Kanzelvorträgen der Einfluß der Gefühle, welche alle Herzen zu durchdringen beginnen, deutlicher wahrgenommen würde. In Deutschland, wo jede Gattung zahlreich ist, haben sich Zollikofer, Jerusalem und mehrere Andere durch ihre Kanzelberedsamkeit wohlverdienten Ruf erworben, und man kann über alle Gegenstände eine Menge Predigten lesen, welche vortreffliche Sachen enthalten. Wie weise es aber auch seyn mag, die Moral zu lehren: so kommt es doch noch weit mehr darauf an, daß man die Mittel zur Ausübung ihrer Vorschriften gebe; und diese Mittel bestehen vor allen Dingen in einer religiösen Bewegung. Ueber den Nutzen und den Nachtheil des Lasters und der Tugend wissen alle Menschen ungefähr gleichviel; aber das, was Noth thut, ist Befestigung der inneren Anlage, wodurch man die stürmischen Neigungen unserer Natur bekämpfen kann.
Käme es nur darauf an, der Gemeinde gegenüber gut zu reden: wie könnten dann die Theile der Gottesverehrung, welche in Gesängen und Ceremonien bestehen, eben so viel und noch mehr zur Andacht wirken? Die meisten Prediger beschränken sich darauf, gegen böse Neigungen zu declamiren, anstatt zu zeigen, wie man ihnen unterliegt, und wie man ihnen widersteht. Wirklich sind die meisten von ihnen Richter, welche den Proceß des Menschen instruiren; aber die Priester Gottes sollten uns sagen, was sie leiden und was sie hoffen, und wie sie ihren Charakter durch gewisse Gedanken gemodelt haben. Mit einem Worte: von ihnen erwarten wir geheime Denkwürdigkeiten der Seele in ihren Beziehungen auf Gott.
Verbietende Gesetze reichen in der Regierung des Individuums eben so wenig aus, wie in der Regierung des Staats. Die gesellschaftliche Kunst bedarf zur Unterhaltung des menschlichen Lebens lebendiger Interessen, die sie in Bewegung setzen. Auf gleiche Weise verhält es sich mit den religiösen Erziehern des Menschen. Vor Leidenschaften können sie ihn nur dadurch bewahren, daß sie in seinem Herzen eine lebhafte und reine Entzückung erregen. In mancherlei Beziehung sind die Leidenschaften noch besser, als eine knechtische Gefühllosigkeit; und nichts bändigt sie, als ein tiefes Gefühl, dessen Genüsse man, wofern man sich darauf versteht, mit eben der Kraft und Wahrheit malen mag, womit man den Zauber irdischer Affektionen dargestellt hat.
Was auch die bloß verständigen Menschen sagen mögen: es giebt ein natürliches Bündniß zwischen der Religion und dem Genie. Die Mystiker fühlen sich beinahe ohne Ausnahme angezogen von der Poesie und den schönen Künsten; ihre Ideen leben in Einverständniß mit jeder Art von Ueberlegenheit des Geistes, während die ungläubige Mittelmäßigkeit der Weltmenschen ihre Feindin ist. Diese verträgt sich nicht mit Solchen, welche das Gemüth ergründen wollen; denn, da sie das Beste, was sie besitzt, bereits ausgekramt hat, so ist das Innere berühren und den Jammer entdecken, für sie eins und dasselbe.
Die idealistische Philosophie, das mystische Christenthum und die wahre Poesie haben, in mancherlei Hinsicht, wie denselben Zweck, so dieselbe Quelle. Diese Philosophen, diese Christen und diese Dichter treffen in Einem Verlangen zusammen. Sie wollen an die Stelle des Gemachten und Falschen der Gesellschaft — nicht die Unwissenheit barbarischer Zeiten, sondern einen intellectuellen Anbau bringen, der durch die Vervollkommnung der Einsichten selbst zur Einfachheit zurückführt. Sie möchten aus allen diesen Charakteren ohne Erhebung, aus allen diesen Geistern ohne Ideen, aus allen diesen Spöttern ohne Leben, aus allen diesen Epikuräern ohne Einbildungskraft, die man in Ermangelung des Bessern das menschliche Geschlecht nennt, energische und bedachtsame, aufrichtige und hochherzige Menschen bilden.
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Sechstes Capitel. Von dem Schmerze.
Man hat das Axiom der Mystiker, „daß der Schmerz ein Gut ist," vielfältig getadelt. Einige Philosophen des Alterthums haben behauptet, daß er kein Uebel sey. Es ist indeß bei weitem schwerer, ihn mit Gleichgültigkeit, als mit Hoffnung zu betrachten. [Der
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