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Ueber die Liebe und den Hass

Ueber die Liebe und den Hass

Titel: Ueber die Liebe und den Hass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachida Lamrabet
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der Natur oder des Schicksals oder von beiden, inzwischen ist das auch egal, wurde Johan als kafir in die Welt geschickt. Weiß und gottlos. Ich will damit sagen, von den Milliarden Menschen, die als Muslim in die Welt geschickt werden, bekam ausgerechnet Johan kein Muslim-Wasserzeichen von dem Allwissenden.
    Und wir waren ineinander verliebt, aber nicht füreinander bestimmt.
    Verstärkend kam noch hinzu, dass Johan aus einer Familie stammte, die vor langer Zeit die Kirchentür mit einer derartigen Gewalt hinter sich zugeschlagen hatte, dass es unmöglich war, sie jemals wieder zu öffnen. Seit Generationen existierte in seiner Familie keinerlei Glauben mehr. Jedenfalls nicht an etwas Übernatürliches, denn an sich selbst glaubten sie durchaus. Sie glaubten an die Gestaltungsmöglichkeit ihres Daseins und an die freie Wahl.
    Kurz, ans Glück. Ihr Glück und das Glück ihrer Kinder und Enkel. Sie glaubten so leidenschaftlich und überzeugt daran, dass es ihnen tatsächlich gelang, glücklich zu sein. Jedenfalls konnten sie große Dinge verwirklichen. Sie hörten auf eine innere Stimme, die ihnen sagte, wer sie waren, was sie wollten und was sie zu tun hatten, um das zu erreichen. Und sie vertrauten auf diese Stimme. Sie folgten dieser Stimme blindlings. Auf die Dauer bereitete es ihnen nicht einmal mehr Mühe, dieses Talent, diese Begabung zum Glück und zur Selbstverwirklichung an die nächste Generation weiterzugeben. Es ging von allein, als würde es in ihren Genen liegen.
    Generationsglückliche. Ja, das waren sie im Lauf der Zeit geworden, und es überraschte sie schon lange nicht mehr, dass sich ihnen das Glück in den wunderbarsten Formen offenbarte. Aus seinem Hobby den Beruf machen, mit Dichtern und geschätzten Künstlern befreundet sein, die Welt bereisen, die wahre Liebe und zugleich die wahre Freundschaft, ein Art-déco-Haus mit einer Seele.
    So war das. Gott war tot. Als Mythos demaskiert. Wissenschaftlich entseelt. Der Heilige Geist wurde eigenhändig und rational aus dem Himmel genommen und wieder in die Dinge hineingestopft. Aus einem animistischen Reflex heraus umgaben sie sich mit Dingen, die eine Seele besaßen. Sie kehrten zurück zum Anfang von allem. Zur Essenz. Zu dem, was sie Essenz nannten. Ohne Gewissensbisse.
    Sie wurden nicht verrückt.
    Ich war wirklich neidisch. Neidisch, wie erreichbar die Dinge waren, mit oder ohne Seele. Neidisch auf die Leichtigkeit, mit der sie ihre Träume realisierten. Doch ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass diese Welt ihnen gehörte und dass ich, mit Hingabe, Standhaftigkeit und Geduld, bestimmt meinen Anteil vom ewigen Leben bekäme.
    Bis ich dann eines Tages zu dem furchtbaren Schluss kam, dass Gott nicht unfehlbar war. Dass ihm im Gegenteil ein ganz gravierender Fehler unterlaufen war, als er Jamal, meinen Ehemann, zu einem Muslim gemacht hatte und Johan nicht.
    Dass ich meinem Ehemann in Gedanken untreu war, damit konnte ich noch leben, besser gesagt, es war der Grund, weshalb ich noch lebte, doch als ich nun auch noch Gott abtrünnig wurde, da verlor ich jeglichen Halt.
    Ich zweifelte an der Vorsehung Gottes, ich protestierte gegen seine unergründlichen Wege. Von ihm konnte ich keinen Segen mehr erwarten. Ich war verdammt. Und das war das Allerletzte, was ich sein wollte. Ich beschloss, reuig und fromm zu sein und mein Leben in den Dienst Gottes zu stellen. Und da das Wort Gottes verkündet werden musste, machte ich es mir zur Aufgabe, die Menschen zu rufen. Ich begann mit einem hübschen Text, worin ich die Grauen des dschahnnam und die Herrlichkeit des al-Âchira einander gegenüberstellte. Ich verschickte den Text als Kettenbrief im Internet an Tausende von Leuten. Ich erhielt unzählige Antworten.
    Danach schrieb ich einen Text über den Tod. Wenn ich ihn mir wieder wachrufe, bekomme ich noch immer eine Gänsehaut.
    Salam aleikum, Schwestern und Brüder
    Ein schwarzes Loch, tief und eng. In Erwartung seiner Bewohner.
    Allein.
    Nackt und kalt.
    Ängstlich.
    Gehüllt in weiße Tücher, legt man ihn nieder.
    Behutsam und wortlos.
    Erde bedeckt ihn.
    Es wird immer dunkler, Schritte verhallen.
    Und dann die Stille. Die einsame Stille.
    Wo sind sie alle? Wo sind seine Eltern, für die er so viel getan hat? Und wo seine Freunde, denen er in schwierigen Zeiten immer eine Stütze war? Wo sind seine Kinder, für die er sein Leben hergeben würde?
    Niemand.
    Niemand, der ihm helfen, niemand, der ihn hören könnte!
    Wo sind die Menschen, für die er sich

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