Ueber die Liebe und den Hass
sprechen.
Damals war ich erst seit ein paar Wochen wieder drin. So war das mit mir. Es gab Zeiten, da war ich recht stabil und fühlte mich dann so gut, dass ich heimlich meine Medikamente nicht mehr einnahm. Und bevor ich mich versah, fing ich wieder damit an, Leuten auf der Straße Flugtickets anzudrehen. Natürlich nur für den Hinflug.
Eines Tages stand Hannelore erneut in dem Gemeinschaftsraum. Diesmal war ihr Haar rabenschwarz gefärbt, und anstelle der Schneeflocken blitzten darin vereinzelt blonde Strähnchen auf. Äußerlich keine wirkliche Verbesserung seit damals, und dennoch sah sie besser aus. Sie verströmte nicht mehr diese Hoffnungslosigkeit. Sie wirkte selbstsicherer.
Wie fast alle in dem Raum hier rauchte auch sie. Selbst ich hatte mir eine angesteckt. Das war das letzte Stückchen Freiheit, das uns noch blieb, und wir rauchten, als wollten wir allen auf der Welt damit beweisen, dass wir freie Individuen waren, vor allem aber Menschen. Freie rauchende Menschen.
Später an diesem Tag würde Hannelore zum ersten Mal an der Gruppentherapie teilnehmen, an der auch ich seit Wochen teilnahm. Weil das vorgeschrieben war.
Und wie das immer so mit Neuankömmlingen ist, wurde Hannelore von den anderen als Eindringling empfunden. Sie hatte eine seltsame Wirkung auf die Gruppe. Es lag an ihr, dass wir uns zu einem einzigen unentwirrbaren Knäuel zusammentaten und uns zum ersten Mal bewusst als ein Wir verstanden. Wir waren hier zuerst. Wir kennen uns bereits seit Wochen, wenn auch nur mit Namen und Krankheitsbild. Wir wurden zu einer homogenen Gruppe, die sich reflexartig schloss, wie eine Auster, die ein lästiges Sandkörnchen loswerden will. Dass eben dieses Sandkörnchen sich auch zu einer kostbaren Perle entpuppen konnte, das war uns allen ziemlich egal. Uns war nur wichtig, ihr zu zeigen, dass sie nicht zu uns gehörte.
In dem Moment, als wir uns alle im Halbkreis hinsetzten und unsere vertrauten Plätze einnahmen, war es wichtig, Hannelore spüren zu lassen, dass sie störte. Sie sollte merken, dass sie eine Außenseiterin war. Für einen Moment gab sie uns das seltene und glückselige Gefühl der Zusammengehörigkeit.
Denn es war nur eine Frage der Zeit, bis wir uns an die Anwesenheit der Neuen gewöhnt hätten, uns als Gruppe wieder auflösten und zu uns selbst zurückkehrten, ganz auf uns selbst fixiert.
Ihretwegen mussten wir alle ein großes Schild mit unserem Namen in Brusthöhe tragen. Ein weiterer Versuch, das Zusammengehörigkeitsgefühl zu durchbrechen. Wir kannten unsere Namen ziemlich gut, dafür brauchten wir nicht diese lächerlichen Schilder.
Anfangs hatte ich mich gesträubt, bei diesem albernen Schildertragen mitzumachen. Das Aufmüpfige überkam mich immer dann, wenn man mich in einen Halbkreis setzte. Aber als mich die Therapeutin mit ihrer anbiedernden Art fragte, ob ich der Gruppe vielleicht erklären könnte, warum ich meinen Namen nicht auf das Schild schreiben wolle, tat ich doch, was man von mir verlangte. OUARDA . In gut lesbaren Großbuchstaben. Echt idiotisch.
Die Therapeutin bat Hannelore, sich vorzustellen.
Das tat sie dann auch. Ich erinnere mich daran, dass sie klar und deutlich sprach, und es fiel auf, dass die Therapeutin sie kein einziges Mal unterbrechen musste, sie nicht dazu ermuntern brauchte, sich zu öffnen. Es sprudelte einfach aus ihr heraus. Unterdessen saß die Betreuerin einfach in ihrer Therapeutinnenhaltung da, etwas vornübergebeugt, mit den Ellenbogen auf den Knien und locker übereinandergekreuzten Handgelenken.
Sie lächelte die ganze Zeit über, selbst als Hannelore erzählte, sie sei ein paar Tage nach ihrem fünfzehnten Geburtstag aus der Klasse zum Direktor gerufen worden, der ihr dann erzählt habe, ihre Mutter habe sich umgebracht. Ich weiß noch, dass ich abwechselnd zur Therapeutin und zu Hannelore schaute. Ich fand das Lächeln der Therapeutin unangemessen und herzlos. Es war überdeutlich, dass die Therapeutin mit ihren Gedanken ganz woanders war, sonst hätte sie einen anderen Gesichtsausdruck annehmen müssen, oder etwa nicht? Mich bestätigte diese Erfahrung erneut in meiner Aversion gegen die Therapeutin.
Hannelore hatte es offenbar nicht bemerkt, denn sie erzählte weiter, wobei sie genau darauf achtete, jeden abwechselnd anzuschauen. Sie erzählte, dass sie ein Einzelkind sei und Welpen liebe.
Es wirkte wie antrainiert, ich meine das Schauen. Wenn jemand aus der Gruppe von sich selbst erzählen musste, schaute er meist auf
Weitere Kostenlose Bücher