Ueber die Liebe und den Hass
stand mir damals nun wirklich nicht der Sinn. Er war von meiner Krankheit besessen, und er wollte unter allen Umständen beweisen, dass das, woran ich litt, mit dem sogenannten Jerusalemsyndrom verwandt war.
Dass ich noch nie in Jerusalem war, war in seinen Augen ein zu vernachlässigendes Detail. Ihm ging es ums Prinzip.
Wie immer ging es ums Prinzip. Das ganze Drumherum war nur Füllmaterial.
Ich musste eine schriftliche Beschwerde einreichen, um von ihm befreit zu werden.
Hannelore fragte, ob sie abends noch zum Quatschen zu mir aufs Zimmer kommen dürfe. Ich sagte ihr, dass ich nichts dagegen hätte, obwohl ich nicht richtig verstand, weshalb sie sich an mich klammerte.
Aber wenn ich ehrlich bin, dann schmeichelte mir ihr Interesse durchaus. Als sei ich jemand, der zählte. Der wichtig ist. Man schätzte meine Gesellschaft. Möglicherweise lag das an meiner unwiderstehlichen Ausstrahlung. Den meisten Leuten gelang es nicht, irgendeine Ausstrahlung bei mir zu entdecken, und sie sahen nur das große, schwarze Kopftuch. Doch dass ich eine Ausstrahlung besaß, daran zweifelte ich nicht – daran habe ich noch nie gezweifelt.
An diesem Abend erzählte sie mir, sie habe nach der dritten gescheiterten Beziehung damit angefangen, sich mit dem Rasiermesser die Unterarme zu ritzen. So, wie es ihr letzter Freund auch gemacht hatte.
Und dann die fünf Welpen.
Sie habe fünf Welpen erlöst, erzählte sie. Ich hatte das ungute Gefühl, sie habe das »Erlösen« nicht in der Art durchgeführt, dass man die Geschichte später als fröhliches Jugendfeuilleton mit pädagogischen Ambitionen verwenden könnte.
Ich hatte mich nicht geirrt. Sie hatte in ihrem kurzen Leben fünf Welpen ersäuft.
»Wieso machst du so etwas Krankes?«, hatte ich sie geradeheraus gefragt.
Ihr schien das in diesem Moment das Humanste zu sein, was sie tun konnte, lautete ihre sterile Antwort. Sie waren alle mutterlos gewesen und hatten keine Ahnung, was es hieß, ohne Mutter zu leben.
Es war etwas in ihren Blicken gewesen, das sie dazu getrieben hatte. Dieses Suchende in den Augen. Hannelore behauptete, sie hätten gewusst, dass ihnen etwas fehlte, aber damals konnten sie noch nicht erfassen, was es war. Und deshalb habe sie sie erlöst, bevor die grauenhafte Erkenntnis, ein Leben ohne Anker, ohne Sinn zu führen, ganz zu ihnen durchdrang. Niemand verdiene ein solches Leben. Andauernd auf der Suche nach etwas, das nicht mehr da war. Nach Antworten auf Fragen, die nie gestellt werden können.
Den ersten Welpen, der auf diese Art das erlösende Ende fand, hatte sie von ihrer Tante bekommen, kurz nach dem Selbstmord ihrer Mutter.
Sie hatte sich zugleich traurig und erleichtert gefühlt. Es war schwierig gewesen, doch es hatte sein müssen. Dass sie damit wieder allein war, hatte sie damals in Kauf genommen. Es wäre egoistisch gewesen, nur an ihr eigenes Glück und ihre Gefühle zu denken. So war sie nicht erzogen worden.
Nach den Welpen kamen die schlechten Männer und schließlich dann die Frauen. Das Ritzen verlieh ihr das Gefühl, lebendig zu sein, gab ihr das Gefühl von Macht.
»Trotz dieser elenden Gefühle im Kopf existierte ich.« So erklärte sie es, und je mehr sie ritzte, je stärker der Schmerz war, desto leerer wurde ihr Kopf. Danach hielt sie allem wieder eine Zeitlang stand. Die düsteren Gedanken waren erst einmal vertrieben.
Bis sie dann ihren Job verlor. Sie arbeitete in einem Kaufhaus, aber als sie an die Kasse versetzt wurde, ging es schief. Sie sollte einen Kittel mit kurzen Ärmeln tragen, doch sie weigerte sich. Anfangs trug sie ein langärmliges T-Shirt unter der Uniform. Aber ihr Arbeitgeber kannte keine Gnade, es sollten alle gleich aussehen. Er wollte seinen Kunden ein einheitliches Bild vermitteln, und dazu passte auf keinen Fall eine Kassiererin, die ein schwarzes langärmliges T-Shirt unter dem Kittel trug. Da blieb sie einfach zu Hause. Adieu Job, adieu Stabilität, adieu Zeitvertreib, adieu soziale Kontakte und willkommen Sozialhilfe, Einsamkeit und Verwirrung. Sie ritzte nun tiefer. Bis es anfing zu bluten. Nicht dass sie sterben wollte, aber sie wollte einfach Blut sehen und den ganzen Schmerz wegritzen.
Es fühle sich gut an, sagte sie, und ich war bestürzt, als ich die schrundigen Narben sah.
Sie fragte mich, ob ich einen Freund hätte.
Und ich schwieg in allen Tonlagen über Jamal, erzählte ihr aber alles von Johan. Schließlich waren wir füreinander gemacht. Durch ein eigenartiges, grausames Spiel
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