Ueber die Liebe und den Hass
einen unbestimmten Punkt zwischen der Therapeutin und einem anderen Patienten, oder er starrte auf seine Schuhe. Als ob keine Zuhörer existierten, als ob sie laut am Improvisieren wären und plötzlich, beim Hervorkramen ihrer Erinnerung, realisierten, dass sie hier gerade ihre Lebensgeschichte preisgaben. Meistens hörten sie dann abrupt auf zu sprechen.
Ich hatte die schlechte Angewohnheit, während des Sprechens eine Unebenheit auf meinem Arm zu fixieren. Eine Wunde mit Kruste, von einem Pickel, den ich mir während der letzten Sitzung aufgekratzt hatte. Wenn ich ungefähr bei der Hälfte meiner Darlegungen angekommen war, begann ich meistens an dem Knubbel herumzufummeln, und keiner interessierte sich mehr für meine Geschichte, die nur noch stockend und stotternd herauskam. Alle schauten sie zu, wie ich in den verwundeten Pickel kniff, an ihm herumpulte, kratzte und schließlich versuchte, ihn mit Daumen und Zeigefinger tief in die Haut zu drücken, in der Hoffnung, er würde in einer der Poren verschwinden, und unter meinem Daumen wäre die Haut wieder glatt und unversehrt.
Das passierte natürlich nie. Jedes Mal, wenn ich den Daumen wegnahm, erschrak ich und erschauderten die anderen beim Anblick des blutigen Kraters.
Hannelore wurde nicht abgelenkt und ließ sich auch nicht ablenken. Sie erzählte zusammenhängend und ruhig von ihrer Vorliebe für schlechte Männer, denen es jedes Mal gelang, ihr Selbstwertgefühl schleichend zu ruinieren, bis ihr Ich einem Haufen Schrott glich. Nach jeder leidvollen Liebesbeziehung empfand sie Selbsthass. Und nach jedem Bruch suchte sie Hilfe in den Armen eines anderen Monsters. Immer wieder.
Ihre Vorliebe für Frauen erwähnte sie damals nicht. Das würde sie mir erst später unter vier Augen anvertrauen.
Nach der Gruppensitzung kam Hannelore direkt auf mich zu. Bereits während der Therapie war mir aufgefallen, wie sie mich beobachtet hatte. Doch das ist ein Gefühl, das ich ehrlich gesagt damals andauernd hatte.
Sie fragte mich, ob ich Lust hätte, mit ihr ein Stückchen im Garten spazieren zu gehen. Ich weiß noch, dass ich kurz zögerte.
Ich hatte ein seltsames Gefühl bei ihr. Sie wirkte nicht ganz echt. Als würde sie mit Begeisterung eine Rolle spielen. Inzwischen gingen wir gemeinsam in Richtung Garten, und so erübrigte es sich, dass ich ihrem Vorschlag noch groß zustimmte.
Im Nachhinein ist mir klar, weshalb sie mich herausgepickt hat. Nichts ist reiner Zufall, so viel steht schon mal fest. Aber ich war die Person, der man vertrauen konnte. Es gibt eine Regel, die besagt, man solle sich in einer Gruppe immer der Person nähern, die besonders ungewöhnlich und seltsam aussieht. Bei ihnen handelt es sich um diejenigen, die keinen Anschluss an die anderen Gruppenteilnehmer gefunden haben, ihnen kann man also vertrauen. Und, was besonders wichtig ist, sie sprudeln über vor Dankbarkeit für die unerwartete Annäherung.
Es war allerdings kein großes Kunststück, an dem Ort, wo wir uns befanden, jemanden zu finden, der seltsam war. Jeder Patient hatte so seine Skurrilitäten. Das Einzige, worin ich mich von den anderen unterschied, war mein großes schwarzes Kopftuch und die Tatsache, dass die Therapeuten und Ärzte noch immer zu keinem Schluss über meine Krankheit gekommen waren. Sie hatten keine Ahnung, woran ich litt.
Das Vertrauen der Sonderlinge gewinnen – das war die erste wichtige Regel, die Hannelore von den Wesen gelernt hatte, die sie mitgenommen hatten. Das sollte ich später erfahren.
Während unseres ersten Spaziergangs verlor sie kein Wort über ihre Entführung und ihren Aufenthalt auf dem Planeten Xenoalloch, doch wenn ich jetzt daran zurückdenke, machte sie damals bereits Anspielungen. Sie sprach von ihrem wahren Ich, das sich erst in einer anderen Dimension richtig zeigen konnte. Ich dachte, ich hätte es mit jemandem zu tun, der über eine bilderreiche Sprache verfügte, der sich gern in Metaphern ausdrückte. Sie fragte mich, weshalb ich hier eingeliefert worden sei. Und ich erzählte ihr von meinen nächtlichen Eskapaden. Von meinem zyklisch immer wiederkehrenden Ticketverkauf. Eine ganz normale bipolare Störung, meinten der Psychiater und die Morgenvisite. Das Jerusalemsyndrom, meinte der niederländische Arzt im praktischen Jahr, der auch nach seiner Ausbildungszeit noch lange meine Akte behielt. Ich war seine persönliche Laborratte. Eine, die ihm bis ins letzte Detail erklären musste, was in ihrem Kopf vorging, und danach
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