Ueber die Verhaeltnisse
wenn sie den Namen nicht weiß. Sie streckt die Beine durch zu einem überlangen Schritt, wie um sich auf den Absatz zu treten und sich dadurch festzuhalten. Aber ihr zweites Ich entwischt, entwischt nur von ihr aus gesehen, die sich nachgeht, geht als die, die sich vorgeht, unentwegt weiter, schüttelt dabei nur das dunkle offene Haar.
Ihr Ärger wird zum Groll, zum Ingrimm. Wie kommt sie dazu, sich davonzurennen? Ist sie nicht mehr Herrin ihrer selbst?
Zurück, ruft sie, halt! Aber sie hört sich nicht. Sie müßte ihren Namen wissen. Ihren langen Namen und ihren kurzen Namen, das Wort, um sich wieder in eins zu bannen. Oder ist sie tatsächlich zwei? Ist sie zwei, die voneinander getrennt sind? Dennoch – der Name! Bevor sie sich ganz entschwindet. Noch bleibt der Abstand gleich, aber wenn es ihr nicht gelingt, ihn zu verringern, sich nahe zu sein, wird sie auf immer zerfallen.
Und in diesem Augenblick dreht sie, die sie sich vorgeht, sich um. »Frô«, ruft Mela aus dem zappelnden Schlaf, noch aus dem Schlaf, doch ihr langsam emporsteigender Blick landet geradewegs auf dem Gesicht der Tochter.
Schließlich und endlich. Frô sitzt an ihrem Bett, mit jenem fremden Seidenglanz auf der Haut und dem verdächtigen Glitzern in den Augen. Noch immer verzaubert. Sie umarmen einander. So viel hat sie ihr sagen, ihr auf den Kopf zu sagen wollen. Und sie spürt, wie es aufsteigt, aber da redet Borisch, die gute alte Borisch. Eigentlich eine Frechheit, daß Borisch sich anmaßt, in diesem intimen Augenblick dabeizusein. Hat sie sich ihr schon zur Gänze ausgeliefert? Nicht nur leiblich, sondern auch mit der Seele? Vielleicht ist es gut so, daß sie nun all das, was sich so lange schon in ihr vorbereitet, nicht sagen muß. All die schneidenden Sätze. Diese Vernichtungsgeschosse aus Worten, ein jedes mit einer eigenen Spitze. Sie weiß, daß sie sie nicht für immer verhindern kann, sie schneiden ihr sonst ins eigene Fleisch, aber sie sollen nicht alle zugleich und im ersten Moment auf Frô niedergehen.
Borisch weiß das und hilft ihr, die gute Borisch. Aber jetzt könnte sie trotzdem gehen. Irgendwann wird sie mit demKind allein sein müssen. Natürlich kann sie für nichts garantieren. Aber wer kann das je? Sie wird sich schon nicht überwältigen lassen von den sich aufrichtenden Fleischerhaken und Nähnadeln. Sie weiß schon, daß sie Frô vertreiben kann, sie ist ja bereits vertrieben. Es geht um die Rückkehr.
»Mein Bruder«, sagt der jüngere Heyn zu Borisch, »kommt mir verändert vor.« Sie sitzen am Ende des Goldenen Horns, im Aussichtscafé Pierre Loti, und schlürfen aus bemalten kuppelförmigen Täßchen Kaffee. Ein milder Mittag. Der Frühling badet im eigenen Glanz, und die gewundene Wasserlinie teilt den europäischen Teil der Stadt in Hälften. Die Hänge sind ein einziger Friedhof, übersät mit kleinen schlichten weißen Stelen mit einem ebenfalls aus Stein gehauenen Turbankopfstück oder einer Blütenrosette, falls die Verblichene eine Frau war.
Borisch hat die Beine übereinandergeschlagen und sucht so bequem wie möglich auf dem höchst unbequemen Stuhl zu sitzen. Sie sind in der Moschee von Eyüb gewesen, wo einst die osmanischen Sultane mit dem Schwert gegürtet worden sind und wo noch immer der Katafalk des heiligen Eyüb sowie der Mantel des Propheten Mohammed ausgestellt werden. Für Borisch eine wichtige Station zum Abhaken. Und nun, da sie in der etwas jenseitigen Grablandschaft sitzen und Borisch ihr tägliches Geschichtspensum hinter sich gebracht hat, ist sie geneigt, sich den Belangen der anderen zu widmen respektive zuzuhören.
»Ich glaube, er war erfolgreich im Osten, aber das allein ist es nicht. Er scheint etwas vorzuhaben, einen Sprung die Leiter hoch oder ganz was Ausgefallenes. Jedenfalls steigt seine Beamtenseele wie ein Ballon.«
Borisch lacht. »Und Frô soll wohl die Heißluft sein … Daskann ich mir nur schlecht vorstellen, so wie ich das Mädchen zeitlebens gekannt habe. Die war viel zu blaß, als daß sie jemanden hätte antreiben können.«
»Manchmal bekommen solche Mädchen Farbe, wenn der entsprechende Mann sie anhaucht«, sagt der jüngere Heyn viel zu altklug und salbungsvoll, wobei er auch noch mit den Liddeckeln schlägt. »Und wie mir scheint, hat mein Bruder gehaucht. Obwohl ich mir das nur schlecht vorstellen kann. So wie ich ihn zeitlebens gekannt habe, war er viel zu heikel, um einen lebenden Menschen auf die Dauer um sich zu ertragen. Aber schaut!
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