Über Gott und die Welt
Musik, Arithmetik, Geometrie und Astronomie gelehrt, aber auch Dialektik, Logik und Rhetorik, und das mit einer neuen Methode. Abaelard hatte sie vor hundert Jahren durchgesetzt (er hatte zwar seinen äußeren Reproduktionsapparat drangeben müssen, aber aus privaten Gründen, und sein Kopf war dadurch nicht schwächer geworden): Man prüft und vergleicht die Meinungen der diversen überlie-ferten Autoritäten und entscheidet nach logischen Prozeduren auf Basis einer weltlichen Grammatik der Ideen. Man betreibt Sprachwissenschaft und Semantik, man fragt sich, was ein gegebenes Wort bedeutet und wie es gebraucht wird. Leitfäden sind die Texte der aristotelischen Logik, aber noch längst nicht alle sind übersetzt und interpretiert und niemand kann griechisch außer den Arabern, die den Europäern sowohl in Philosophie als auch in Naturwissenschaft weit voraus sind. Doch schon seit einem Jahrhundert bastelt die Schule von Chartres, indem sie die mathematischen Texte von Platon wiederentdeckt, an einem Bild der natürlichen Welt, regiert von Gesetzen der Geometrie, von meß-
baren Prozessen. Es ist noch nicht die experimentelle Methode Roger Bacons, aber es ist eine theoretische Konstruktion, ein Versuch, das Universum auf der Basis natürlicher Vorgänge zu erklären, auch wenn die Natur als göttliches Agens gesehen wird.
In Oxford entwickelt Robert Grosseteste eine Metaphysik der Lichtenergie, die ein wenig an Bergson und ein wenig an Einstein denken läßt: Man beginnt, optische Studien zu treiben, mit anderen Worten, man stellt sich das Problem der Wahrnehmung physischer Gegenstände, man zieht eine Grenzlinie zwischen halluziniertem und wirklichem Sehen.
Das ist nicht wenig, denn das Universum des Hochmittelalters war ein Universum der Halluzination, die Welt war ein symbolischer Wald voll mysteriöser Präsenzen, die Dinge erschienen als Emanationen einer Gottheit, die den Menschen unentwegt Rätsel aufgibt. Nicht daß nun dieses Halluzinationsuniversum zur Zeit von Thomas schon unter den Schlägen des Vernunftuniversums zusammengebrochen wäre; im Gegenteil, letzteres ist ein Produkt der intellektuellen Eliten und wird beargwöhnt. Denn, um die volle Wahrheit zu sagen, beargwöhnt wird noch immer die Welt der irdischen Dinge. Franziskus predigte zu den Vögeln, aber der philosophische Ansatz der Theologie ist neoplatonisch. Und das bedeutet: Weit, weit in der Ferne ist Gott, in dessen unerreichbarer Globalität sich die Prinzipien der Dinge bewegen: die Ideen.
Das Universum ist das Ergebnis einer gütigen Unachtsamkeit dieses überaus fernen Einen, der gleichsam überströmend in seiner Überfülle ein wenig sabbert und in den speicheldurch-tränkten Krumen der Materie, die er ausscheidet, Spuren seiner Vollkommenheit hinterläßt, wie Zuckerspuren im Urin. In dieser Ausscheidung, die den nichtigsten äußeren Rand der Aura des Einen darstellt, können wir ab und zu, und fast immer nur durch geniales Rätselraten, Spuren von Keimen der Verständlichkeit fi nden, doch die Verständlichkeit selbst ist woanders, und im günstigsten Fall erreicht sie der Mystiker durch nervöse und asketische Intuition, wenn er mit gleichsam drogenbefl ügeltem Blick in das Junggesellenapartment des Einen schaut, wo die einzige wahre Fete abläuft.
Platon und Augustinus hatten alles gesagt, was nötig war, um die Probleme der Seele zu verstehen, aber sobald man herausfi nden wollte, was eine Blume ist oder das Knäuel von Eingeweiden, das die Mediziner von Salerno im Bauch eines Kranken erforschten, und warum es gut tut, an einem Frühlingsabend an die frische Luft zu gehen, wurden die Dinge unklar. So unklar, daß es besser war, die Blumen in den Miniaturen der Visionäre zu kennen, die Existenz von Eingeweiden zu ignorieren und die Frühlingsabende als eine gefährliche Versuchung anzusehen. So war die europä-
ische Kultur geteilt, man mochte den Himmel begreifen, die Erde begriff man nicht. Und wenn doch einmal jemand anfi ng, die Erde begreifen zu wollen, ohne sich für den Himmel zu interessieren, waren es üble Geschichten. Draußen zogen die Roten Brigaden der Epoche umher: häretische Sekten, die auf der einen Seite die Welt erneuern, unmögliche Republiken errichten wollten, auf der anderen Sodomie, Räuberei und andere Ruchlosigkeiten begingen. Ob’s stimmt oder nicht, wird sich zeigen, besser erst mal alle umbringen.
Dies war die Lage, als die Männer der Vernunft von den Arabern lernten, daß es einen antiken
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