Ueber Gott und die Welt
nationale Eigeninteresse?
Soll man Griechenland weiterhin helfen? Die einen sagen: Ja, das verlangt die Solidarität. Sie gilt bedingungslos. So denkt zum Beispiel Jürgen Habermas. Andere, auch deutsche Politiker, begründen ihre Bereitschaft, Griechenland zu helfen, nicht mehr hauptsächlich mit der Solidarität der Euro-Staaten, sondern mit dem Argument, ein Auseinanderbrechen der Euro-Zone liege nicht im speziellen deutschen Interesse. Da ist der Gedanke des gemeinsamen Interesses schon nicht mehr tragend.
Der Gedanke unbedingten Vorrangs des gemeinsamen Interesses setzt einen Grad der Nähe, des Wir-Gefühls voraus, das innerhalb Deutschlands erreicht ist. Es gibt hier den verfassungsmäßigen Länderfinanzausgleich, bei dem es auch immer wieder knirscht. Aber Europa ist noch nicht zum Vaterland geworden, und ob es das je sein wird, ist offen. Es gibt bereits viele gemeinsame Interessen, und man soll ihren Bereich ruhig ausweiten.
Aber es ist unmöglich, dass alle interaktiven Teilnehmer vollkommen in einem gemeinsamen Interesse aufgehen. Das wäre Totalitarismus. Nicht totalitär war die Vision de Gaulles, der von einem »Europa der Vaterländer« sprach.
Gibt es überhaupt ein Verfahren, um die Spannung zwischen dem gemeinsamen und dem einzelnen Interesse aufzulösen?
Betrachten Sie den Zivilprozess. Er ist eine kunstvolle Sache. Hier stoßen nicht zwei Interessen unvermittelt aufeinander, und der Richter entscheidet nicht beliebig, welchem Interesse er den Vorrang gibt. Vielmehr muss der Richter die Interessen evaluieren. Er kann nicht jedes Interesse gleich behandeln und darf auch nicht die Intensität zum Maßstab machen, mit der einer seine Sache betreibt. Lautes Geschrei und heftiges Theater dürfen ihn nicht beeindrucken.
Vor Gericht also werden Interessen nicht von den Interessenten direkt vorgetragen, sondern durch Anwälte. Warum? Weil hier nicht einfach Interessen gegeneinander geltend gemacht werden, sondern Vorschläge für eine gerechte Lösung des Interessenkonflikts. Dabei gehört es zur Rolle des Anwalts, so zu tun, als hätte er nur das allgemeine Interesse an Gerechtigkeit im Auge. Tatsächlich formuliert er dieses Interesse aber so, dass klar erkennbar bleibt, dass dahinter das individuelle Interesse seines Mandanten steht. Er muss diese Rolle auch spielen. Sonst begeht er Parteienverrat.
Der Richter aber vergleicht nicht die Interessen miteinander, sondern die Lösungsvorschläge. Nur sind beide von den Anwälten ideologisch verbrämt worden. Zum Schluss hat der Richter das Ideologische abzuziehen und beide Vorschläge unter einem reinen Rechtsgesichtspunkt zu vergleichen. Dann spricht er sein Urteil.
An diesem Beispiel sieht man, wie individuelles Interesse auf der einen Seite und allgemeines Interesse auf der anderen zusammenspielen. Voraussetzung ist allerdings, dass Interessen überhaupt evaluierbar sind, evaluierbar durch den Gesetzgeber und durch den Richter. Das aber sind sie nur, wenn es so etwas wie eine Natur des Menschen gibt.
Warum ist für Sie die Anerkennung ein so wichtiges Thema?
Personen sind selbständige, freie Wesen. Jemanden als Person wahrzunehmen beruht auf einem seinerseits freien Akt der Anerkennung. Darin aber ist die Wahrnehmung von Personen paradigmatisch für unsere Wahrnehmung von Wirklichkeit überhaupt. Wir können das Begegnende wie einen Traum betrachten, als etwas, das uns gegenüber gar kein Selbstsein beanspruchen kann, sondern nur genau das ist, was es für uns ist. Die Wahrnehmung von Wirklichkeit als Wirklichkeit ist die Affirmation von Selbstsein, von dem ein Anspruch ausgeht, der Anspruch der Wahrheit.
»Die Wahrheit, mein lieber Sohn, richtet sich nicht nach uns. Wir müssen uns nach ihr richten«, schreibt Matthias Claudius an seinen Sohn Johannes. Wir richten uns nach ihr in jedem Satz, für den wir Wahrheit in Anspruch nehmen. Er ist ein Akt der Freiheit. Jede Erkenntnis ist ein Akt der Anerkennung, also nie etwas bloß Passives.
Kallikles in Platons Dialog »Gorgias« bricht die Diskussion mit Sokrates ab, weil er erkannt hat, dass ein Moment der Anerkennung darin steckt, wenn er sie fortsetzt. Sie fortzusetzen hieße, sich der Wahrheit dessen, was im Gespräch zutage trat, zu unterwerfen.
Im Grunde jeder Erkenntnis liegt ein Akt der Anerkennung. Und in diesem Akt der Anerkennung realisiert die Person ihre eigene Personalität. Nur dadurch ist sie wahrheitsfähig, dass sie zu dieser Selbstentäußerung imstande ist. Als bloßes
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