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Ueber Gott und die Welt

Ueber Gott und die Welt

Titel: Ueber Gott und die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Spaemann
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Meinung, dass wir im Westen augenblicklich einem hypertrophen Individualismus frönen und vielem, was Chinesen an uns kritisieren, muss ich leider zustimmen. Aber der Vorstellung, dass der Einzelne nur ein Derivat der Gesellschaft sei, widerspreche ich. In meiner Kindheit habe ich in öffentlichen Büros überall Schilder gesehen, auf denen stand: Du bist nichts, Dein Volk ist alles. Damals habe ich gedacht, dass 0+0=0 ist. Wie kann ein Volk alles sein, wenn es aus lauter Nichtsen besteht? Das kann nicht wahr sein.«
    Und weiter sagte ich zu ihm: »Sie glauben das auch nicht wirklich. Denn ich habe in China Denkmäler gesehen, die bestimmten Menschen nach ihrem Tod gesetzt wurden. Sie hatten sich um ihr Vaterland oder um den Sozialismus verdient gemacht und sogar ihr Leben geopfert. Als reine Kollektivisten müssten Sie sagen, der Mensch ist eine Ameise. Diese Menschen haben ihren Dienst getan. Punkt. Schluss. Warum also ein Denkmal? Warum sich erinnern? Weil ein Mensch, der sich für sein Land opfert, in gewisser Hinsicht höher steht als das ganze Land. Wir betrachten ihn als Person, nicht bloß als Individuum. Das Individuum ist weniger als eine Gesellschaft von Individuen. Es kann sich dem Interesse des Ganzen opfern.
    Als Person ist der Einzelne inkommensurabel. Ein Individuum kann sich zum Beispiel im Krieg opfern oder kann sogargeopfert werden. Die Person dagegen wird respektiert, indem und weil sie bei allen Handlungen, deren Folgen sie betreffen, Gegenstand von Zumutbarkeitserwägungen ist. Es kann nicht einfach über sie hinweggegangen werden. Wenn über ihr Interesse am Ende hinweggegangen wird, muss das gerechtfertigt werden können, und zwar vor ihr.
    Berühmt ist die Geschichte von dem preußischen General von der Marwitz, der im Krieg mit Sachsen vom König von Preußen den Auftrag erhält, das Schloss des sächsischen Königs in Dresden zu plündern und zu zerstören. Er weigert sich, das zu tun. Der König macht ihn darauf aufmerksam, dass er, als König, ihn wegen Insubordination erschießen lassen kann. Darauf antwortet Marwitz: »Dem König gehört mein Leben, aber nicht meine Ehre.« Marwitz wurde füsiliert.
    Wie verhält es sich, wenn Personen, die, wie Sie sagen, selbst ein Ganzes darstellen, sich zu einem Verband zusammenschließen, einem Personenverband? Welchen ontischen Status hat so ein Verband gegenüber der einzelnen Person?
    Personenverbände besitzen einen eigenen Realitätsstatus. Popper sprach von einer »Dritten Welt«, zu der zum Beispiel die Sprache und die Zahlen gehören. Ich würde sagen: Nicht »die Sprache«, sondern die Sprachgemeinschaft besitzt einen solchen Status. Nicht die Zahl als solche, sondern die Zahlen als gemeinsame, strikt apriorische Gehalte intentionaler Akte zählender Personen. Die Sprachgemeinschaft hat offensichtlich den Primat gegenüber den sprechenden Individuen.
    Der Liberalismus versucht immer, die Dignität der gemeinsamen Objektivierungen personalen Lebens auf die Befriedigung von Individuen zurückzuführen. Nehmen Sie als Beispiel das Fest, sei es das religiöse, das familiäre oder das patriotische Fest. Es vorzubereiten kostet die Mühe vieler Personen.Das Fest soll »gelingen«. Wann ist das Fest gelungen? Es ist gelungen, wenn alle Teilnehmer Freude hatten. Aber das Gelingen eines Festes lässt sich nicht als Funktion der Befriedigung aller einzelnen Teilnehmer verstehen. Es ist wesentlich ein »gemeinsames Gut« und existiert nur als solches.
    Das gilt auch für den Sonntag. Die flexible Arbeitswoche ist kein Ersatz für den öffentlichen Sonntag, an dem auf dem Land sogar die Hühner anders gackern als an einem Werktag. Der Sonntag ist eine
res publica
, eine »öffentliche Sache«.
    Die Messe im katholischen und orthodoxen Verständnis gelingt übrigens immer, wenn sie stattfindet, unabhängig von der Zahl der Mitfeiernden. Und unabhängig davon, ob es sich um ein feierlich gesungenes Hochamt mit seiner subtilen Choreographie handelt oder um eine »Stille Messe«, die ein Priester allein an einem Seitenwinkelaltar zelebriert. Was hier in der Feier vergegenwärtigt wird, die Erlösung des Menschengeschlechts durch den Kreuzestod Jesu, hängt überhaupt nicht von den feiernden Individuen ab, ist aber das, worin jede einzelne Person ihre höchste Verwirklichung findet, weil ihr Lebensvollzug in diesem Opfer seinen höchsten Ausdruck findet. Das Opfer ist, könnte man sagen, Prototyp des Festes als einer gemeinsamen Realität, einer
res

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