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Ueber Gott und die Welt

Ueber Gott und die Welt

Titel: Ueber Gott und die Welt
Autoren: Robert Spaemann
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Folgen. Er aber wäre in seinem Gewissen schwer belastet worden, wenn er im Wissen von diesen Ereignissen mit seiner Forschung im Dienst dieses Krieges weitergemacht hätte.
    Einmal habe ich den Versuch gemacht, einem Lehrer am Dorstener Gymnasium den Star zu stechen. Er hatte im Geschichtsunterricht von der dominierenden Rolle der Juden in der Presse der Weimarer Zeit gesprochen. Ich ging nach dem Unterricht zu ihm und fragte ihn:
    »Herr Studienrat, ich nehme einmal an, dass das, was Sie uns über die Rolle der Juden in der Weimarer Zeit sagten, die Wahrheit ist. Aber warum erzählen Sie das in diesem Augenblick? Wissen Sie nicht, was im Moment mit den Juden geschieht?«
    »Wieso? Was? Sie machen Arbeitseinsatz im Osten.«
    Ich sagte ihm: »Nein, sie machen keinen Arbeitseinsatz, aber ich kann Ihnen sagen, was geschieht.«
    Daraufhin schrie er mich an: »Raus!«
    Er war kein fanatischer Nationalsozialist. Sonst wäre er der Frage nachgegangen, wieso ich ihn in ein solches Gespräch verwickelte. Er wollte es einfach nicht wissen. Und nach dem Krieg gehörte er zu denen, die wahrheitsgemäß sagen konnten, sie hätten es nicht gewusst.
    Wie gesagt, für mich hatte dieses Wissen keine unmittelbaren Konsequenzen. Aber die Konsequenzen kamen dochauf mich zu. Der Wehrdienst rückte näher. Zunächst nur der Reichsarbeitsdienst. Er dauerte für mich ein Vierteljahr lang. Ich absolvierte ihn in Neheim-Hüsten im Sauerland. Tatsächlich wurde hier nicht gearbeitet, sondern der Dienst bestand in vormilitärischer Ausbildung. Dagegen hatte ich nichts, obwohl das Kasernenleben mir in tiefster Seele zuwider war. Aber ich fand es gar nicht so verkehrt, schießen zu lernen.
    Ein Problem entstand für mich, als in diesem Zusammenhang ein Fahneneid abgelegt werden sollte – ein Eid auf den Führer. Diesen Eid würde ich nicht leisten können. Ratsuchend wandte ich mich an meinen Vater und schrieb ihm – vorsichtshalber auf lateinisch – »an iurandum sit an non?« (»ob ich schwören soll oder nicht?«) Mein Vater antwortete postwendend: »Iurandum est. Deus testis rectae voluntatis.« (»Schwören. Gott ist Zeuge des wahren Willens.«) Schön, wenn es so wäre, dachte ich. Aber es ist doch wohl eher der Versuch eines besorgten Vaters, das Leben seines Sohnes zu retten. Dass Gott »Zeuge des guten und richtigen Willens« ist, das hätten sich auch die Christen der ersten 300 Jahre sagen und das Körnchen Weihrauch streuen können. Nein, ich wollte den Eid nicht leisten. Aber ich wollte auch nur sehr ungern zum Märtyrer werden.
    Mein Vorbild war in diesen Dingen immer der listenreiche Odysseus. Ich fand einen Ausweg. Es war eine kalte, regnerische und unfreundliche Jahreszeit. Zwei Tage vor der Vereidigung setzte ich mich am Abend einige Stunden lang nur mit einem Hemd bekleidet ins Freie und ließ mich von dem Schneeregen nassregnen, bis ich bis auf die Knochen durchgefroren war.
    Es ging dann wie nach Plan: Am nächsten Tag musste ich mit hohem Fieber zu Bett und mit einer Angina ins Lazarett. Die Vereidigung fand unterdessen ohne mich statt. Und zumGlück fühlte sich niemand veranlasst, sie bei mir nachzuholen. Die Entlassung aus dem Reichsarbeitsdienst folgte bald darauf. Sie fand an einem Abend statt, und den Leuten, die an dem Abend nicht mehr nach Hause kommen konnten, war es erlaubt, die Nacht noch in der Kaserne zu verbringen. Ich verabscheute das Milieu in dieser Kaserne so, dass ich keine Minute länger freiwillig dort bleiben wollte. Ich ging zum Bahnhof, legte mich auf eine Bank und schlief dort bis zur Ankunft des Frühzug am anderen Morgen. Die Nacht wiedergewonnener Freiheit auf dieser Bank gehört zu den schönsten Augenblicken meines Lebens.
    Der Krieg nahm kein Ende. Der Wehrdienst kam auf mich zu. Ich bin ihm entgangen. Ich war kein Pazifist. Ich bewunderte Don Juan d’Austria. Ich bewunderte Karl Martell, den Prinzen Eugen und den König Jan Sobieski, die Retter Wiens vor den Türken oder die Kämpfer der deutschen Befreiungskriege gegen Napoleon, und ich betrachtete die gefallenen Soldaten des Ersten Weltkriegs zwar nicht als Helden oder Märtyrer, aber als Männer, die ihre Pflicht gegenüber dem Vaterland getan hatten – »wie das Gesetz es befahl«.
    Jüngers »Stahlgewitter« hatte ich zwar nicht gelesen. Da es unter den Nationalsozialisten geschätzt war, ahnte ich nicht, dass es tatsächlich ein gutes Buch ist, besser als Erich Remarques »Im Westen nichts Neues«, das im Unterschied zu den
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