Ueber Gott und die Welt
»Stahlgewittern« eine Absicht verfolgt. Es ist ein Anti-Kriegsbuch. Auf dieses Buch wie auf manches andere der linken Intelligenz der Weimarer Zeit stieß ich, weil man mir die Pflege der Schulbibliothek anvertraut hatte und ich auf diese Weise Zugang besaß zu den »Giftschränken«. Die darin aufbewahrten Bücher verschlang ich.
Diese Lektüre eröffnete mir eine andere Weise, die Welt anzusehen, die sich von der der Nationalsozialisten ebenso unterschied wie von dem pathetischen »Wir sind Hierarchisten«des Schriftstellers Theodor Haecker. Sein »Vergil, Vater des Abendlandes« prägte wie kaum ein anderes zeitgenössisches Buch meine Orientierung in der Welt. Nicht der Lateinunterricht in der Dorstener Schule, sondern Haecker war schuld, dass ich ein halbes Schuljahr lang einen Gesang der Aeneis in deutsche Hexameter übersetzte und am Ende des Schuljahrs eine Fünf in Englisch in Kauf nahm – was Haecker wohl missbilligt hätte, denn das klassische Englisch war für ihn von allen möglichen Surrogaten des Lateinischen das würdigste. Irgendwann fiel mir dann auch »Satire und Polemik« in die Hand, die Sammlung von Haeckers im Ersten Weltkrieg entstandenen polemischen Beiträgen, die im »Brenner« erschienen waren, dem Pendant der »Fackel« von Karl Kraus.
Und nur mit Kraus lassen sich Haeckers Texte vergleichen, seine wütende Verhöhnung der im »Berliner Tageblatt« versammelten liberalen Intelligentsia und ihrer Kriegsbegeisterung, seine unerbittliche Empfindlichkeit gegen falsche Töne, auch im Land des feindlichen Nachbarn, wo Marschall Foche »das Schwert des Siegers zu Füßen der Madonna von Lourdes niederlegte«, wozu Haecker nur bemerkte, es habe sich doch wohl um eine Gasgranate gehandelt.
Papst Benedikts XV. Rede von der »grauenhaft nutzlosen Schlächterei« der europäischen Völker mag wohl Haeckers durch Kierkegaard und Newman vorbereiteten Übertritt zum Katholizismus befördert haben. Wie richtig es war, Haeckers Schriften als Widerstandsliteratur zu lesen – auch wenn man nicht wusste, dass die »Weiße Rose« sich bei ihm traf –, offenbarten seine nach dem Krieg erschienenen »Tag- und Nachtbücher«.
Der Zweite Weltkrieg schien sich mir vom Ersten dadurch zu unterscheiden, dass Recht und Unrecht in ihm eindeutig verteilt waren. Hier das Reich des Bösen, dort dieVölker, die ihre Freiheit verteidigten. Im Hitler-Stalin-Pakt mitsamt der Teilung Polens hatte sich zusammengetan, was zusammengehörte. »Herodes und Pilatus«, sagte mein Vater. Ob der Überfall auf die Sowjetunion ein Präventivschlag oder ein zum Programm gehöriger Eroberungskrieg war, spielte letzten Endes keine Rolle.
Dass die Ermordung des polnischen Offizierskorps 1940 in Katyn durch die Sowjets laut alliierter Propaganda ein Werk der Nationalsozialisten war, glaubte ich aufs Wort, weil ich glaubte, dass nur die Nationalsozialisten lügen und dass sie es immer tun.
Weil Jugendliche zur Parteilichkeit neigen, auch wenn es den eigenen Interessen entgegengesetzt ist, war ich sogar parteilich in Bezug auf die Beurteilung der Zerstörung der deutschen Städte. Die Bombardierung Kölns im Mai 1942 habe ich erlebt und tote Nachbarn aus ihrem Haus getragen. Dass diese Bombardements Kriegsverbrechen waren und die, die sie anordneten, Verbrecher, drang damals nicht in mein Bewusstsein. Ich empfand sie als schicksalhafte unvermeidliche Übel im Kampf gegen Hitler.
Nun also – der Militärdienst. Ich wollte nicht. Einmal war ich jemandem begegnet, der auch nicht wollte. Ein junger Soldat stand eines Tages, wohl Anfang 1944, an unserer Haustür und bat meinen Vater zu sprechen. Er übergab meinem Vater den Brief eines Freundes, der den Überbringer als unbedingt vertrauenswürdig empfahl. Mein Vater lud ihn ein, mit uns zu essen. Er war im Anschluss an einen Urlaub der Truppe ferngeblieben, also ein Deserteur. Offenbar fühlte er sich in Uniform sicherer als in Zivil.
Ich erinnere mich nicht genau an unsere Gespräche. Nach Tisch überließ mein Vater mir den Gast. Wir tauschten uns aus über seine Situation, über unsere gemeinsame Einstellung in diesem Krieg und über Philosophie. Er schenkte mir zumAbschied das berühmte, 1932 erschienene 100. Göschen-Bändchen von Karl Jaspers »Die geistige Situation der Zeit«, das er bei sich trug und das ich anschließend verschlang. Die hier vorgenommene Positionsbestimmung im Verhältnis zu Marxismus, Rassismus und Psychoanalyse war meine erste Begegnung mit der
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