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Ueber Gott und die Welt

Ueber Gott und die Welt

Titel: Ueber Gott und die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Spaemann
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Verhalten der Mehrheit für normativ hält.
    Dies wiederum beruht in Europa auf dem Verlust desGlaubens an die Erbsünde. Im Übrigen ist Heuchelei ein unvermeidliches Nebenprodukt hochkultureller Standards.
    Was geschieht aber, wenn das Verhalten der Mehrheit von denen, die nicht zu ihr gehören, für ungerecht gehalten wird?
    Man kann das bei Kindern im Kindergarten oder Sandkasten beobachten. Sie haben Interessenkonflikte. Das eine Kind will beim Spielen sein Reich ausdehnen, das andere auch. Beide stoßen aufeinander. Wenn die beiden nun zwei andere Kinder im selben Streit beobachten und sehen, wie das eine vom anderen übervorteilt wird, sind sie empört und halten das für ungerecht und schlecht.
    Das heißt, sie unterscheiden schon früh die Wahrnehmung fremder Interessen von Ungerechtigkeit. Ungerechtigkeit ist das, was nicht sein soll. Als meine älteste Tochter ungefähr sechs Jahre alt war, spielte sie einmal Murmeln mit einem Nachbarskind. Der Junge verlor, war aber stärker und sammelte alle Murmeln ein, so als habe er gewonnen. Meine Tochter war weniger darüber traurig, dass sie die Murmeln verloren hatte, als vielmehr empört über die Unverschämtheit des Jungen, der sich auf den Weg nach Hause machte. Sie schrie ihm nach: »Ich schenk sie dir, damit du sie wenigstens nicht gestohlen hast.« Ich fand das klug, denn damit blieb sie trotz ihrer Niederlage moralische Siegerin.
    Zu den ethischen Themen Ihrer Münchner Zeit gehört auch die kritische Auseinandersetzung mit der Modernität. In dem Reclam-Band »Philosophische Essays« hat der letzte Beitrag den Titel »Ende der Modernität?« Worauf zielt Ihre Kritik ab?
    In der Einleitung zu diesem Band schreibe ich: »… das Signum der Moderne ist die neuzeitliche Wissenschaft, ›science‹.«Wer verstanden hat, was »science« im Ganzen der Wirklichkeit eigentlich bedeutet, hat verstanden, was die Moderne ist. Nun schreibe ich nicht gegen »science« – davon kann überhaupt keine Rede sein –, sondern gegen den Szientismus.
    Die Ergebnisse der Neurophysiologie beispielsweise klären uns über vieles auf, etwa welche Hirnareale notwendig sind für bestimmte Arten des Denkens. Wir werden dadurch über wichtige Dinge in Kenntnis gesetzt. Was ich allerdings kritisiere, ist der Anspruch bestimmter Neurophysiologen, uns zu erklären, was Denken
ist
. Die Wissenschaft kann zu strengen Einsichten nur kommen, wenn sie ihre Grenzen kennt. Szientismus ist die Weltanschauung, die glaubt, eine Sache verstanden zu haben, wenn man weiß, welche Faktoren für das Zustandekommen einer Sache erforderlich sind.
    Husserls Kritik des Psychologismus in der Logik hat meines Erachtens zwingend gezeigt, dass logische Gesetze oder mathematische Formeln nicht etwas Psychologisches sind, geschweige denn, so müssen wir heute hinzufügen, etwas Physiologisches. Das heißt, was objektivierende »science« nicht aufklären kann, ist der Inhalt intentionaler Akte, der Inhalt von Meinungen.
    Wo liegt die Grenze der Naturwissenschaft?
    Sie kann nicht verstehen, was Intention ist. Sie kann etwas über das Denken sagen, aber nicht über Gedanken. Sie kann darstellen, wie der Prozess des Denkens bestimmte Areale im Gehirn involviert. Aber
was
gedacht wird, das kann sie nicht aufklären. Sonst wären ja die Informationen der Neurowissenschaftler selbst nur Informationen über deren Hirnzustände. Aber warum sollten uns die interessieren? Wogegen ich mich also wende, ist die Reduktion des Menschen auf das, was objektivierende Wissenschaft über ihn sagen kann.
    Was heißt in diesem Zusammenhang Anthropomorphismus?
    Unter Anthropomorphismus verstehen wir eine Interpretation der Wirklichkeit nach Analogie des Menschen, eine Betrachtungsweise, welche durch Wissenschaft aufgeklärt werden soll. Aber wie will Wissenschaft aufklären, was Hunger oder Durst ist? Sie kann nur die neuronalen Prozesse beschreiben, die Hunger und Durst zugrunde liegen. Die Prozesse aber
sind
nicht Hunger und Durst. Was Hunger und Durst sind, weiß ich nur durch eigenes Erleben. Und das ist, was es ist, und nicht etwas anderes. »Everything is what it is and not another thing«, sagte Bischof Butler und später Wittgenstein.
    Und wenn der Mensch dieses Verfahren der Objektivierung auf sich selbst anwendet, bleibt vom Menschen gar nichts übrig. Das heißt, das Selbstverständnis des Menschen ist dann ganz irrelevant und wird selber von der Wissenschaft als Anthropomorphismus bezeichnet. Auch die radikalen

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