Ueber Gott und die Welt
Zusammentragen von Begriffsbestimmungen – manchmal sind es über 200 Spalten – mache einen nicht klüger: Das gilt wohl für den Vorgänger des Wörterbuchs, für den »Eisler«. Er wusste als Neukantianer, wie es ist, und trug zusammen, was andere, die es weniger gut wussten, geäußert haben. Warum muss man das wissen? Unser Wörterbuch ist von anderer Art. Es erzählt Geschichten, Geschichten großer Dialoge, an deren vorläufigem Ende wir stehen. Und wenn wir unser eigenes Instrumentarium der Verständigung über Gott, Mensch und Welt verstehen wollen, dann ist es wichtig, diese Geschichten zu kennen. Nur so können wir den Dialog fruchtbar fortsetzen. Wörter wie »Geist«, »Vernunft«, »Verstand«, »Substanz«, »Freiheit«, »Glück«, »Pflicht« haben eine faszinierende Geschichte, die erzählt werden muss. Was »Freiheit« ist, ist nicht unabhängig davon, wie wir über Freiheit denken.
Alle Verständigung geht aus von einem Vorverständnis. Philosophie ist ein ständiges Zurückgehen auf die zunächst unthematisierten eigenen Voraussetzungen. Im Eisler’schenWörterbuch dagegen findet man nur die Aneinanderreihung von Nominaldefinitionen ohne Verständnis, warum sich etwa die Bedeutung des Begriffs »Geist« so entfaltet hat, wie sie sich entfaltet hat.
Verstehe ich Sie richtig? Philosophie und Geistesgeschichte oder Geisteswissenschaft sind für Sie nicht dasselbe.
Philosophie ist so wenig eine Geisteswissenschaft wie die Mathematik. Sie denkt nach über das Verhältnis von Geistes- und Naturwissenschaft. So kann sie nicht selbst Geisteswissenschaft sein.
Philosophie tritt oft auf der Stelle. Wenn alle sich schon dem Betrieb des Forschens in einem vorausgesetzten Rahmen hingeben, stellt sie plötzlich eine Frage nach dem Rahmen an den Anfang.
Nehmen Sie das Beispiel
Bewegung
. Dass es Bewegung gibt, ist Voraussetzung der Physik. Was Bewegung ist und ob es sie überhaupt gibt, ist eine philosophische Frage, die auch Aristoteles intensiv beschäftigte. Tief verunsichert hatte die Griechen Zenons Geschichte von Achilles, der die Schildkröte nicht einholen kann, weil immer dann, wenn er den Ort erreicht hat, wo die Schildkröte zuvor war, die Schildkröte schon wieder ein Stückchen weiter ist. Der Abstand verringert sich ständig, aber er kann nicht verschwinden. Aristoteles hat das Paradox gelöst durch Einführung des Begriffs
dynamis
und des potentiell Unendlichen.
Erst im 17. Jahrhundert wurde Bewegung mithilfe der Infinitesimalrechnung berechenbar, aber nur um den Preis, dass der Bewegungscharakter der Bewegung verschwindet. Das Kontinuum löst sich auf in eine unendliche Zahl stationärer Zustände. Leibniz, einer der beiden Erfinder der Infinitesimalrechnung, hat genau gesehen, dass eine Philosophie der Bewegung sich nicht auf die Infinitesimalrechnung stützen kann.
Können sich denn die Geisteswissenschaften zum Prozess des Forschens kritisch verhalten?
An sich schon. Aber sie bekommen ja Geld vom Staat, solange sie nachweisen, dass sie Forschung betreiben. Dabei kann nur empirische Forschung im strikten Sinn zu Ergebnissen führen, die relativ unangefochten sind – was staatlichen und privaten Geldgebern am liebsten ist. Aber sobald Einzelergebnisse der Forschung miteinander verknüpft werden, beginnt die Diskussion: Warum diese und nicht eine andere Verknüpfung?
In den Sozialwissenschaften bedeutet empirische Forschung vor allem die Anwendung quantitativer Methoden. Menschen werden nach ihren Meinungen, Weltanschauungen oder Befindlichkeiten befragt. Führt das nicht zu Ergebnissen, die auch anfechtbar sind?
Immer dann, wenn man normative Aussagen aus Statistiken ableiten will. Als der Kinsey-Report erschien, ein Bericht über das sexuelle Verhalten der amerikanischen Männer, bedeutete das eine Sensation. Als die Leute den Report lasen, haben sich viele gesagt: Ich habe mich auf eine Art benommen, die früher als unanständig galt, jetzt erfahre ich, dass sich die meisten so verhalten. Diese Information des Reports hatte ihre Wirkung und führte zu einer Veränderung der Sitten.
Kant sagt einmal: Die Berufung auf Erfahrung in Sachen der Moral ist pöbelhaft. In allen Hochkulturen besteht eine deutliche Diskrepanz zwischen dem Verhalten der Mehrheit und dem, was die Menschen billigen. Wenn die Kluft verschwindet, dann heißt das entweder: Alle Menschen sind Heilige geworden, oder aber es findet ein Verfall der Sitten statt. Das Letztere ist das Übliche, wenn man das
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