Über Himmel und Erde: Jorge Bergoglio im Gespräch mit dem Rabbiner Abraham Skorka - Das persönliche Credo des neuen Papstes (German Edition)
Geschichte und verstehen sie nicht. Wenn wir die kulturellen Kontexte nicht studieren, kommen wir zu anachronistischen, unpassenden Deutungen. So wie bei den Kreuzzügen. Heutzutage verstehen wir sie nicht, aber es gab eine Zeit, in der getötet wurde, in der man die Seldschuken aus den heiligen Stätten Jerusalems warf … Als die Katholiken Konstantinopel plünderten und zerstörten: Welche theologische Erklärung kann man dafür geben? Es ist eine große Sünde, aber kulturell betrachtet machte man das damals so. Das weist auf die Bestialität hin, die manchmal in uns steckt. Damals herrschte eine Auffassung, den Glauben in die Welt zu tragen, die mit der Sünde des Eroberers einherging: Der Glaube wurde durchgesetzt, selbst indem man Köpfe abschlug. Wir können die Geschichte nicht von einem ethischen Purismus aus analysieren. Leider war die Geschichte immer so, mit Glauben und ohne. Und das sollte uns Menschen beschämen. Zu jener Zeit koexistierten Glaube und Schwert. Eine historische Analyse muss man immer nach den Maßgaben der Epoche durchführen, gemäß ihrer Hermeneutik; nicht um die Geschehnisse zu rechtfertigen, sondern um sie zu verstehen. Es ist unabkömmlich, die Geschichte im kulturellen Kontext der Zeit, in der die Ereignisse geschahen, zu analysieren. Von heute aus zum Beispiel Isaaks Opferung durch seinen Vater Abraham zu überdenken, führt zum Unverständnis. Man muss es gemäß den Auffassungen und Praktiken von damals studieren. Wichtig ist außerdem, die Gesamtheit der historischen Prozesse zu analysieren und nicht bei der Interpretation eines Bruchstücks zu bleiben, denn dieses Fragment wird später verallgemeinert, nimmt den Platz der Gesamtheit ein und wird zur Legende. So wie auf die Missbräuche der Spanier hingewiesen wird – denn sie kamen offensichtlich in diese Länder, um ihren Reibach zu machen und das Gold mitzunehmen –, gab es auch in der Zeit der Eroberung Kirchenmänner, die sich dem Predigen und dem Helfen verschrieben hatten, wie Bartolomé de las Casas, der Verteidiger der Indios gegen die Ungerechtigkeiten der Eroberer. Fast alle diese Kirchenvertreter waren sanfte Männer, die sich annäherten und versuchten, den Indios Würde zu verleihen. Sie mussten sich mit anderen Bräuchen auseinandersetzen wie Polygamie, Menschenopfer, Alkoholismus. Den Mate-Tee erfanden die Jesuiten in den Reduktionen, um die Indios von einer Abhängigkeit – Alkohol, Chicha – auf etwas anderes zu lenken, das nicht schädlich war, sie aber auch antrieb. Viele Kirchenmänner, die keine Kompromisslösungen mit der ausbeuterischen zivilen Macht eingehen wollten, legten sich für die Förderung sehr ins Zeug. Roque González de Santa Cruz beispielsweise, ein heiliger Jesuit, stritt mit seinem Bruder, der so etwas wie der Gouverneur der Stadt Asunción war, weil er der Versklavung der Indios nicht zustimmen wollte. Es gab eine Verteidigung der Indios durch Kirchenmänner. Die Jesuiten-Reduktionen sind ein Beispiel für die Förderung des Menschen.
Skorka : Zur Eroberung Lateinamerikas gibt es von jüdischer Seite nicht viel zu berichten. Zu erwähnen wären vielleicht die Kryptojuden, 129 die den Weg an den Rio de la Plata gefunden haben. 1810 erging ein Erlass des Inquisitionsgerichts von Lima, alle des Kryptojudentums Verdächtigen auszuliefern. Untersucht wurde dieses Thema von dem polnischstämmigen Historiker Boleslao Levin. Eine Rolle in Politik und Gesellschaft spielten Juden erst seit der Einwanderungswelle ab 1880, als sich mit der Hilfe von Barón Hirsch im Landesinneren Agrargemeinschaften bildeten, z. B. Moisesville oder Mauricio. Die Siedler erfüllten damit ein Ideal von Juan Bautista Alberdi, der sich, wie in seinem Buch Las bases (1852) beschrieben, für eine europäische Einwanderung aussprach. Gesellschaftlich bemerkbar machte sich der jüdische Einfluss zunächst in den Wissenschaften und in der Literatur. Ich denke dabei an Persönlichkeiten wie Alberto Gerchunoff, Bernardo Verbitsky oder César Tiempo. Oder große Ärzte. Politisch meldeten sich die Juden erst nach der zweiten Einwanderungswelle ab 1910 zu Wort. Die Menschen aus der Türkei und aus Osteuropa brachten damals sozialistische Ideen ins Land. Deshalb war der Anteil von Juden in der Politik auch so hoch, insbesondere in den Arbeiterbewegungen, in der Sozialistischen Partei – erinnert sei nur an die Brüder Dickman – und auch in der Kommunistischen Partei. Daneben gab es Anarchisten wie Simón Radowitzky, der
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