Über Himmel und Erde: Jorge Bergoglio im Gespräch mit dem Rabbiner Abraham Skorka - Das persönliche Credo des neuen Papstes (German Edition)
erzeugt, dass man sagt: »Du darfst dieses oder jenes nicht tun.« Damit schafft man bei einem Kind ein Bewusstsein für Richtig und Falsch und legt damit die Grundlage für die Vorstellung von Schuld, was wiederum zu der Idee von Strafe und Gerechtigkeit führt. Wir beide sind davon überzeugt, dass es nicht nur eine irdische Gerechtigkeit gibt, sondern dass wir uns eines Tages auch vor Gott verantworten müssen. Schließlich hat Gott uns seine Gebote gegeben: »Du sollst nicht stehlen«, »Du sollst nicht töten«. Die Idee von Schuld muss es allein schon deshalb geben, weil klar sein muss, dass jemand, der eine zerstörerische Tat begeht, irgendwann zur Rechenschaft gezogen wird.
Bergoglio : Früher war es ganz normal, den Cuco und den Hombre de la Bolsa heraufzubeschwören. 54 Heutzutage sagt man einem Kind, dass der Cuco kommt, und es lacht einem laut ins Gesicht. In unserer Kindheit hat man uns vom Cuco erzählt. Die Furcht allein ist eine Übertreibung, eine schlechte Erziehungsmethode. Die puritanische Strömung des Systems hat das oft so gemacht. Das Problem liegt darin, die Übertretung als etwas darzustellen, was einen von Gott entfernt. Ich verweise auf den heiligen Augustinus, wie er von der Erlösung, von Gottes Liebe spricht. Mit Bezug auf die Sünde von Adam und Eva wird ihm der Ausdruck »glückliche Schuld« zugeschrieben. Ich nehme ihn beim Wort. Als würde Gott sagen: »Ich habe zugelassen, dass einige das Gebot übertreten, damit sie vor Scham erröten.« Denn dort werden sie den Gott der Barmherzigkeit treffen. Falls nicht, sind sie Christen mit guten Umgangsformen, aber schlechten Gewohnheiten im Herzen: die Hochmütigen. Manchmal macht uns die Übertretung in Gottes Gegenwart demütig und bringt uns dazu, um Vergebung zu bitten.
Skorka : Ich bin wieder ganz Ihrer Meinung. Die Übertretung hat die Funktion, uns zu zeigen, dass wir nicht vollkommen sind. Auch wer sagt, dass er vollkommen sein will, wird irgendwann einen Fehler begehen. Und das soll er auch, damit ihm klar wird, dass er sich nicht selbst genügt. Wenn jemand immer übergenau und korrekt ist, tut ihm eine Frustration vielleicht ganz gut. Denn Selbstgenügsamkeit wird schnell zu Überheblichkeit. Und Überheblichkeit zerstört Welten.
54 »Cuco« und »Hombre de la Bolsa« sind Schreckgestalten, mit deren Kommen die Eltern drohten, wenn die Kinder ungehorsam waren oder nicht schlafen wollten. Der Cuco hat keine bestimmte Gestalt, der Hombre de la Bolsa trägt einen großen Sack auf dem Rücken, in dem er die ungehorsamen Kinder an einen unbestimmten Ort wegträgt.
9. Über Fundamentalismus
Skorka : Rabbiner und Priester sollten versuchen, Gott den Menschen näherzubringen, das ist ihre Aufgabe. Rabbiner heißt ja auch Lehrer. Was ist die Rolle des Priesters im Katholizismus?
Bergoglio : Sie ist dreifach: Lehrer, Leiter des Volkes Gottes und Vorsitzender der liturgischen Versammlung, wo das Gebet, die Anbetung stattfinden.
Skorka : Aber soll er den Menschen Gott näherbringen wie im Judentum? Wir sagen: »Ich helfe dir, ich kann dich lehren, was die Schriften sagen, aber den Ruf musst du selber spüren.«
Bergoglio : Der Auftrag der Lehre enthält auch dies. Man kann die Entscheidung eines anderen nie ersetzen. Der Priester, der sich anmaßt, ausschließlich Anweisungen zu erteilen, wie es in fundamentalistischen Gruppierungen geschieht, entwertet die Menschen auf der Suche nach Gott und verstümmelt sie. In seiner Rolle als Lehrer unterrichtet der Priester, er unterbreitet die offenbarte Wahrheit und begleitet die Menschen. Selbst wenn er Scheitern miterleben muss, er begleitet. Der Lehrer, der sich anmaßt, die Entscheidungen für den Schüler zu treffen, ist kein guter Priester, er ist ein guter Diktator, einer, der die religiöse Persönlichkeit der anderen entwertet.
Skorka : Das ist ein sehr wichtiger Punkt. In jüdischen Kreisen gibt es tatsächlich geistliche Führer, die ein großes Charisma und viel Strahlkraft besitzen. Wenn sie etwas sagen, kann man sich dem kaum entziehen, selbst wenn es sich dabei um etwas handelt, das jeder mit sich selbst ausmachen muss. In einer Welt, die so unsicher geworden ist wie die unsere, in der alles sich von einem Augenblick zum nächsten ändern kann, verlangen viele Menschen nach einer »Wahrheit«, nach etwas, an dem sie sich festhalten können in einer flüssigen Realität, und sei dieses Etwas noch so oberflächlich. Manche Wahrheiten über Gott findet man nur in sich selbst.
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