Über jeden Verdacht erhaben
trotz seiner gesetzlichen Vollmacht ein Eindringling zu sein. Er machte einen Wandschrank auf und fuhr zusammen, als er seinen Namen auf einem Blatt Papier entdeckte, das an einem Kleidersack mit geöffnetem Reißverschluß befestigt war. Er las zunächst den Zettel. Es war eine kurze Mitteilung an ihn selbst:
Rune, Ich wäre Dir dankbar, wenn Du diese Kleidungsstücke mitnehmen könntest, die ich bei dem bevorstehenden Prozeß tragen will. Vielleicht wollen meine ehemaligen Kollegen noch untersuchen, daß hier tatsächlich nichts Illegales versteckt ist. Mit bestem Dank im voraus.
Hamilton Rune Jansson untersuchte errötend den Kleidersack, der kaum mehr zu enthalten schien als saubere Hemden, ein paar Pullover, Unterwäsche, ein paar Schuhe, ein paar Jeans und ein blaues Jackett. Plötzlich erinnerte er sich an etwas, was Hamilton in seinem seltsamen Amtszimmer über »Theater« gesagt hatte. So würde er sich also anziehen, wenn es für ihn keine Rolle mehr zu spielen gab: fast so etwas wie Freizeitkleidung.
Rune Jansson zog den Reißverschluß hoch, hob den Kleidersack herunter und ging hinaus. Das letzte Zimmer im Obergeschoß überraschte ihn mit seinem völlig anderen Aussehen. Der Raum war weiß gestrichen und erst vor kurzem renoviert worden. Er sah aus wie eine kleine EDV-Zentrale und war ohne Zweifel ein Arbeitsplatz. Mehrere der Geräte im Raum hatten Funktionen, von denen Rune Jansson nichts begriff. Er nahm an, daß dies Hamiltons privates Arbeitszimmer im Haus gewesen war. Die rosafarbenen Wolkengardinen paßten jedoch nicht zu dieser Vorstellung. Auf einer Schreibtischunterlage neben dem wohl wichtigsten PC lag ein Lederordner mit dem Logo von IBM und einem in Goldbuchstaben gedruckten Namen: Tessie Hamilton.
Es war also ihr Arbeitszimmer gewesen. Erst jetzt sah er ihr Bild, ein Foto in einem Silberrahmen. Sie lächelte sehr breit mit weißen Zähnen. Sie hatte den Kopf mit einer schnellen Bewegung in den Nacken geworfen, die sich bis in ihr schwarzes Haar fortsetzte. Sie war sehr schön gewesen. Er erkannte sie schwach von irgendeinem Zeitungsfoto. Vor dem Bild lag eine noch recht frische rote Rose. Er streckte die Hand aus und betastete vorsichtig die weichen Blütenblätter. Die Rose war höchstens ein paar Tage alt.
11
Im Lauf der letzten zwanzig Jahre waren die Mörder Schwedens auf fast sensationelle Weise geistig gesünder geworden. Um die Mitte der siebziger Jahre wurden nur fünfundzwanzig Prozent der Mörder des Landes zu Haftstrafen verurteilt. Die große Mehrheit wurde in geschlossene psychiatrische Anstalten eingewiesen.
Um die Mitte der neunziger Jahre hatte sich das Verhältnis genau umgekehrt. Jetzt wurden fünfundsiebzig Prozent aller Mörder im Sinne des Gesetzes für geistig gesund befunden und konnten somit zu Haftstrafen verurteilt werden.
Der Grundsatz, daß verrückte Menschen nicht für ihre Taten verantwortlich sind, ist uralt. Man kann ihn in allen bekannten Gesetzen der schwedischen Geschichte finden, bis in die Zeit der Landschaftsgesetze des Mittelalters. In unserer Zeit findet sich der Grundsatz in Kapitel 30, Paragraph 6 des Strafgesetzbuches:
§ 6 Wer eine Straftat in einem die klare Urteilsfähigkeit ausschließenden Geisteszustand begangen hat, darf nicht zu Freiheitsentzug verurteilt werden. Wenn das Gericht in einem solchen Fall zu der Überzeugung kommt, daß auch eine andere Strafe unangemessen ist, bleibt der Angeklagte straffrei.
Dieser gesetzliche Grundsatz mag einfach und klar erscheinen. Doch die Frage lautet natürlich zum einen, was eigentlich unter »einem die klare Urteilsfähigkeit ausschließenden Geisteszustand« zu verstehen ist, zum anderen, wer entscheiden soll, ob ein solcher Zustand vorliegt, der die Urteilsfähigkeit ausschließt.
Die scheinbare Genesung, die bei den schwedischen Mördern in nur zwanzig Jahren erfolgt zu sein scheint, läßt sich jedoch weder medizinisch noch juristisch erklären. Es handelt sich vielmehr mehr um eine politische Frage, wer zu einer Haftstrafe und wer zur Einweisung in eine psychiatrische Klinik verurteilt werden soll.
Ende der Achtziger hatte die Presse die Politiker schon seit mehreren Jahren gedrängt, endlich tätig zu werden. Die Presse hatte die Öffentlichkeit mit aparten Fällen bekannt gemacht, die von niemandem recht verstanden wurden. Das galt besonders, wenn die Öffentlichkeit durch die Medien nur eine kurzgefaßte Version des jeweiligen Falles kennenlernte. So gab es beispielsweise einige
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