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Über jeden Verdacht erhaben

Über jeden Verdacht erhaben

Titel: Über jeden Verdacht erhaben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
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Landesverrats miterlebt, da solche Verbrechen früher nicht vor Gericht verhandelt wurden, sondern mit schnelleren und handfesteren Methoden geahndet wurden als dem Herunterleiern sinnloser Texte vor einem Gericht.
    Jurij Tschiwartschew seufzte laut, als wollte er kundtun, wie gelangweilt er sich fühlte. Sofort versetzte ihm Larissa Nikolajewna einen neuen Rippenstoß. Die Anwältin saß in entspannter und zugleich aufmerksamer Zuhörerpose da und hatte die Beine übereinandergeschlagen. Sie sah aus, als wäre jedes Wort, das sie jetzt zu hören bekam, vollkommen neu für sie und überdies von größter Bedeutung.
    Die Zeit schleppte sich dahin. Jurij Tschiwartschew nahm an, daß der Vorsitzende eingeschlafen war. Er hatte sich zurückgelehnt und saß mit geschlossenen Augen da, als hörte er konzentriert und aufmerksam zu. Möglicherweise hatte er eine seit vielen Jahren eingeübte Schlafstellung, die bei Betrachtern die Illusion des Zuhörens erweckte; falls er dem Fortgang des Verfahrens tatsächlich folgen wollte, wäre es besser, es dem jüngeren Kollegen an seiner Seite nachzutun, der vornübergebeugt dasaß und mitlas.
    Als der Abschnitt kam, in dem Tatjana Simonescus Tod erwähnt wurde, sagte sich Jurij Tschiwartschew, als wäre es ein Trost oder ein willkommener Zeitvertreib, daß es wenigstens hier eine kleine Frage gab, die des Nachdenkens wert war.
    Oberstleutnant Simonescu war die einzige Angehörige der Nachrichtendiensteinheit in London gewesen, die tot aufgefunden worden war; ihre vier Untergebenen waren einfach nur verschwunden. Man hatte sie in ihrer eigenen Wohnung auf eigentümliche Weise erhängt gefunden. Den Berichten der britischen Skandalpresse war nichts weiter zu entnehmen, als daß diese der Meinung war, die Frau sei infolge eines Unglücksfalls gestorben, der sich im Zusammenhang mit eigentümlichen sexuellen Experimenten ereignet habe. Etwas, was bei der britischen Oberschicht offenbar erstaunlich verbreitet war.
    In der Anklageschrift wurde es für selbstverständlich angesehen, daß sie ermordet worden war, und zwar von dem »berüchtigten Spion Hamilton«, und daß es nur habe geschehen können, weil Jurij Tschiwartschew Informationen über sie preisgegeben habe.
    Das konnte sehr wohl wahr sein. Man konnte sich aber fragen, zumindest als Zeitvertreib, der in diesem Moment sehr willkommen war, weshalb man sie nicht einfach hatte »verschwinden« lassen wie die vier anderen Operateure. Was für besondere Absichten hatte Carl damit verfolgt, ihren Tod auf so spektakuläre Weise zu arrangieren, falls tatsächlich er dahintersteckte?
    Die logische Erklärung dafür mußte sein, daß zwischen einer bekannten Dame der Gesellschaft, die mit dem früheren britischen Verteidigungsminister verheiratet war, und vier anonymen Männern, die überdies unter falschen Identitäten gelebt hatten, ein erheblicher Unterschied bestanden haben mußte. Wenn Tatjana Simonescu einfach verschwunden wäre, hätte die zivile Polizei durch eine allzu intensive Suche nach ihr vielleicht für Unruhe gesorgt?
    So etwa konnte es gewesen sein.
    Dann gab es noch die Möglichkeit, die Erklärung aufgrund eines fast biblischen Gedankengangs zu suchen, nämlich daß dem, der selbst böse ist, eine göttliche Strafe droht. Tatjana Simonescu hatte mit bewunderswertem Erfolg in rein technischer Hinsicht eine ganze Reihe von »Selbstmorden« organisiert, die gerade an diese so speziellen britischen sexuellen Praktiken gemahnten. Und dann hatte sie selbst genauso sterben müssen, wie sie andere ermordet hatte?
    Das erschien Jurij Tschiwartschew weniger wahrscheinlich. Zumindest fiel es ihm schwer, sich vorzustellen, daß der skandinavisch ordentliche und sorgfältige Carl sich die Mühe gemacht haben könnte, bei der Hinrichtung etwas zu arrangieren, was einen besonderen Symbolcharakter besaß. Vielleicht hatten seine britischen Verbündeten gemeint, so müsse es gemacht werden? Vielleicht war das Ganze eine ungewöhnliche Form des sogenannten britischen Humors?
    Wie auch immer: Der Staatsanwalt konnte im Grunde nicht beweisen, daß sie ermordet worden war, ebensowenig wie er beweisen konnte, daß die vier verschwundenen Operateure ermordet worden waren oder irgendwo inhaftiert saßen. Es war sozusagen ein Mordprozeß ohne Leichen, eine Argumentation die Larissa Nikolajewna als irrelevant abgelehnt hatte. Sie war der Meinung, daß Jurij Tschiwartschew schon viel zuviel gestanden habe, um mit solchen Einwänden, die an und

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